(Foto: Dominique L. Kauer) |
Aktuell befindet sich die Gesellschaft in einem sogenannten „Ausnahmezustand“. Wobei zu dem Begriff derzeit sowohl rechtliche als auch sozialwissenschaftliche Debatten entstanden sind (vgl. Agamben 2020; Klafki 2020). Regierungen versuchen die Ausbreitung des Coronavirus mithilfe von politischen Maßnahmen zu verlangsamen. Der Hashtag #flattenthecurve geht durch das Netz. Damit einhergehend wird weltweit zu Disziplinierungsmaßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen und -sperren gegriffen. Lückenlose Kontrolle aller Grenzen und Übergänge in Staaten, Bundesländer und Städten und die Anweisung aller Bürger*innen, möglichst Zuhause zu bleiben, sind beispielsweise in Deutschland zu sehen. Während die Mehrheit der Gesellschaft allerdings durch Spaziergänge und Videoanrufe soziale Kontakte aufrechterhalten kann, sind derzeit Menschen in Pflegeheimen ausschließlich dem Personal überlassen. Bundesweit sind Besuche bei Verwandten und Bekannten entweder ganz verboten oder auf eine Stunde begrenzt worden, mit dem Vorbehalt, Besuchende abweisen zu dürfen. Der deutschen Regierung fehlt statistisches Wissen über tatsächlich Erkrankte, was zu starker Regulierung führt.
Im Jahr 1975 schrieb Foucault bereits über die Art der Disziplinierung durch eine regulierende Biomacht und macht Altenpflegeheime dabei als Heterotopie aus. Diese seien Räume, die in Verbindung mit allen anderen Räumen stehen und doch allen Platzierungen widersprächen. Altenpflegeheime befinden sich, nach Foucaults Definition, weiterhin zwischen Krisen- und Abweichungsheterotopien. Die Bewohnenden der Heime befinden sich einerseits im Verhältnis zur Gesellschaft im Krisenzustand, innerhalb einer Übergangsphase des Lebens. Andererseits verhalten sie sich abweichend zur Norm und haben besondere Bedürfnisse, da sich Müßiggang nicht in das Produktivitätsideal der Leistungsgesellschaft einfügt. Gleichzeitig machen Altenpflegeheime auf die Vergänglichkeit des Lebens aufmerksam, die nicht mit der Funktion der Biomacht einhergeht. Denn die Biomacht, so Foucault, ist auf Lebenssteigerung und Produktivität ausgelegt. Anstatt, dass das Altern als biologische Entwicklung angesehen wird, wird sie sozial bewertet.
Heterotopien sind Orte, die der Logik der Einordnung durch „ein System der Öffnung und Abschließung“ folgen, so Foucault (vgl. 1967: 325). Bisher waren Altenpflegeheime nicht vollends abgeschlossene Räume, sodass ein Vergleich mit Gefängnissen nicht adäquat gewesen wäre. Dies änderte sich in den letzten Tagen. So wurde in einem Würzburger Altenpflegeheim ein Corona-Fall bestätigt, der zum Todesfall eines Menschen führte. Seitdem gelten in dem Heim laut dem Landesamt besondere Schutzvorkehrungen. Dies umfasst erstens ein striktes Besuchsverbot. Aus familiären Umkreisen hört man vermehrt, wie Besuche zur Unmöglichkeit werden. Zweitens werden die Bewohnenden isoliert und dürfen ihre Zimmer nicht verlassen. Drittens betreten die Pflegekräfte die Zimmer der Patient*innen ausschließlich in Schutzanzügen und mit Atemschutzmasken.
Ein Blick nach Spanien lässt zudem nichts Gutes ahnen. Von dort kommen Berichte der Überforderung der Altenpflegenden und über die rapide Zunahme von Todesfällen in den Heimen. Die Tageszeitung El País titelte: „Residenzen werden zu Leichenhallen“. Für Angehörige ist es besonders bitter, dass sie nicht zu ihren erkrankten Eltern oder Großeltern vorgelassen werden. „Sie lassen sie allein sterben“, beklagte sich eine Frau, die ihre 85-jährige Mutter aus dem Heim holen wollte, aber abgewiesen wurde, berichtet die Süddeutsche Zeitung (vgl. Urban 2020).
In der bisherigen gesellschaftlichen Ordnung fügten sich Altenpflegeheime als Heterotopie ein, indem sie sie bestätigen und ihr widersprechen. Sie bestätigen und widersprechen der ewig jungen Leistungsgesellschaft und der steten Produktivität, in der wir leben. Nun werden sie zusätzlich zur unaussprechlichen Dystopie und schreiben so die derzeitige Ordnung fest: die Norm der persönlichen Freiheit und umsichtigen Entscheidung daheim zu bleiben. Altenpflegeheime werden nun zum drastischen Kontrast dessen und als Raum wirksam und wirklich. Sie werden zur Mahnung, die Ordnung beizubehalten.
Heterotopien beginnen erst dann zu funktionieren, wenn die Menschen einen absoluten Bruch mit der traditionellen Zeit vollzogen haben (vgl. Foucault, 2001: 114). Wenn die traditionelle Zeit als die der physischen Beziehungen angenommen wird, dann findet dieser absolute Bruch gerade statt. Die Alternative stellt sich für Menschen und Medien im globalen Norden in der Technologie dar, die bereits das berufliche sowie das soziale Leben durchwebt. Sie fügt sich nun auch in die privatesten Momente ein und zeigt so das Absolute des Bruches mit der traditionellen Zeit. In Spanien ist dies beispielhaft sichtbar: Madrider Bestattungsunternehmer bieten dort an, den letzten Gang der Verstorbenen online zu übertragen. Es drängt sich die Frage auf, was aus Altenpflegeheimen als verschärfte Krisen- und Abweichungsheterotopien wird, wenn die umgebene Ordnung selbst in Gefahr gerät.
von Dominique L. Kauer, Studentin der Geographie (Master)
Literatur
Agamben, G. (2020): Nach Corona. Wir sind nurmehr das nackte Leben. In: Neue Züricher Zeitung, online unter: https://www.nzz.ch/feuilleton/giorgio-agamben-ueber-das-coronavirus-wie-es-unsere-gesellschaft-veraendert-ld.1547093, zuletzt geprüft am 27.03.2020.
Foucault, M. (2001): In Verteidigung der Gesellschaft. Frankfurt/M: Suhrkamp.
Foucault, M. (2006 [1967, 1984]): Von anderen Räumen. In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/Main 2006: Suhrkamp. S. 317–329.
Klafki, A. (2020): "Jeder Eingriff in die Freiheitsrechte muss verhältnismäßig sein". In: Friedrich-Schiller-Universität Jena, online unter: https://www.uni-jena.de/200323_Klafki_Interview, zuletzt geprüft am 27.03.2020.
Urban, T. (2020): Katastrophale Zustände in spanischen Altenheimen. In: Süddeutsche Zeitung Online, online unter: https://www.sueddeutsche.de/panorama/coronavirus-spanien-altenheime-1.4855906, zuletzt geprüft am 26.03.2020.