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Ukrainische Geflüchtete – die Rettung für den deutschen Arbeitsmarkt? (Laura Miczka)

Seit Beginn des russischen Invasionskrieges in der Ukraine am 24. Februar 2022 sind nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge über 610.000 ukrainische Geflüchtete bei ihrer Ankunft in Deutschland registriert wurden (STATISTA RESEARCH DEPARTMENT 2022). Die Zahl derer, die in der Bundesrepublik Zuflucht und Schutz vor dem Krieg suchen, quantifiziert diese Angabe jedoch nicht. Dies liegt unter anderem daran, dass aufgrund der Visumsbefreiung an den deutschen Grenzen aktuell keine Einreisekontrollen stattfinden und viele Ukrainer:innen, die bereits Asyl in der ukrainischen Community oder bei Freund:innen und Bekannten fanden, noch nicht offiziell gemeldet sind (TAGESSCHAU 2022). Zudem sind die Angaben nur bedingt aussagekräftig, da in vielen Fällen unklar ist, wie viele Geflüchtete nach der Erfassung in Deutschland weitergereist oder trotz der kriegerischen Kampfhandlungen in die Ukraine zurückgekehrt sind. 

Für alle Geflüchteten, die aufgrund des Krieges das Staatsgebiet der Ukraine verlassen und Zuflucht in der Europäischen Union suchen, wird erstmalig die EU-Richtlinie 2001/55/EG, bekannt als „Massenzustrom-Richtlinie“, geltend gemacht. Diese wurde am 20. Juli 2001 als Antwort auf die Balkankriege und im Kontext der Ausarbeitung einer gemeinsamen Asylpolitik einschließlich einer gemeinsamen europäischen Asylregelung vom Rat der Europäischen Union erlassen und trat am 7. August 2001 in Kraft (EUROPÄISCHE UNION 2001). Mit dem Durchführungsbeschluss 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine wurde die Einführung des Mechanismus eines vorübergehenden Schutzes aktiviert (EUROPÄISCHE UNION 2022). Der vorübergehende Schutz ist ein Instrument, um Geflüchteten vergleichsweise unkompliziert und ohne die Durchführung langwieriger und bürokratischer Asylverfahren Schutz zu gewähren und bestimmte Rechte zu garantieren. Vor diesem Hintergrund wird hierzulande Paragraph 24 des Aufenthaltsgesetzes zur Anwendung kommen und Geflüchteten mit ukrainischer Staatsangehörigkeit, sowie Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt ermöglicht. Dadurch wird diesen Personen mit dem Aufenthaltstitel sowohl die Beschäftigung als auch die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit erlaubt (BUNDESMINISTERIUM DES INNERN UND FÜR HEIMAT 2022). 

Auf ihrer Website verspricht die BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT gleiche Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt für alle. Für alle Geflüchteten? Wohl eher kaum. Für Geflüchtete, die aus anderen Teilen der Welt Zuflucht in Deutschland suchen, gelten diesbezüglich andere Bestimmungen und eine Zulassung zum Arbeitsmarkt ist an das Erfüllen bürokratischer Kriterien gebunden. So dürfen lediglich anerkannte Asylbewerber:innen, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen positiven Asylbescheid erhalten haben, grundsätzlich uneingeschränkt als Beschäftigte arbeiten oder einer selbstständigen Tätigkeit nachgehen (BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT o.J.). Fraglich ist daher, ob es sich bei der progressiven Migrationspolitik der Europäischen Union und der Bundesregierung um Lehren handelt, die aus der ‘Flüchtlingskrise‘ 2015 gezogen wurden, oder sich wieder einmal der anhaltende strukturelle Rassismus im europäischen Asylsystem zeigt. 

In Anbetracht des vergleichsweise erleichterten Zugangs ukrainischer Geflüchteter zum deutschen Arbeitsmarkt gab es in den letzten Wochen vermehrt Meldungen zu prognostizierten Effekten auf die deutsche Wirtschaft beispielsweise in Bezug auf ein Entgegenwirken des ‘Fachkräftemangels‘. Die Nachfrage nach Arbeitskräften ist vielen Branchen und Regionen seit Jahren groß, besonders gefragt sind Fachkräfte auch in Thüringen (BUNDESMINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFT UND KLIMASCHUTZ). Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung waren zum Ende des vierten Quartals 2021 rund 1,69 Millionen Stellen auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu besetzen (BOSSLER & POPP 2022). Aktuell sind es überwiegend jedoch ukrainische Frauen und Kinder, die Deutschland erreichen. Mit dem Ausrufen des Kriegsrechtes nach dem Kriegsbeginn ordnete Präsident Wolodymyr Selenskyj im Kontext der Mobilmachung ein Ausreiseverbot für ukrainische Männer im wehrpflichtigen Alter (18 bis 60 Jahre) an. BOSSLER und POPP (2022) zeigen in ihrer Publikation auf, dass ein Abgleich der Berufe, die in Deutschland durch eine hohe Nachfrage gekennzeichnet sind, und Berufen, die in der Ukraine häufig ausgeübt wurden, eine Vermutung zu lässt, dass geflüchtete Frauen aus der Ukraine in akademischen Berufen angestellt werden könnten. Damit geben sie eine Zuversicht, dass die Zuwanderung von ukrainischen Frauen im erwerbsfähigen Alter zur Verringerung der Engpässe in akademischen, technischen und medizinischen Berufen beitragen könnte. Für gute Integrationsperspektiven auf dem deutschen Arbeitsmarkt spricht auch das vergleichsweise hohe (Aus-) Bildungsniveau ukrainischer Geflüchteter im internationalen Vergleich (KEITEL 2022). Der Anteil der Personen, die einen Hochschulabschluss absolvieren, ist höher als in Deutschland (HASS 2022). Aufgrund der Regionalstruktur der ukrainischen Communities, die es bereits vor Kriegsbeginn in Deutschland gab, könnten vor allem im Osten Deutschlands solche Potenziale genutzt werden. Denn eine Analyse der Regionalstruktur ukrainischer Communities zeigt, dass in Relation zur migrantischen Gesamtbevölkerung ein größerer Anteil derer, die eine ukrainische Staatsangehörigkeit besitzen, in Ostdeutschland lebt (KOSYAKOVA 2022: 2). Vor dem Hintergrund dessen, dass sich die migrantische Gesamtbevölkerung überwiegend auf den Westen Deutschlands und den dortigen Ballungsräumen konzentriert, während der Anteil derer, die keine deutsche Staatangehörigkeit besitzen, in Ostdeutschland sehr gering ist, zeigen sich regionale Unterschiede in der Verteilung migrantischer Gruppen innerhalb Deutschlands. Zudem ist die Anzahl der Staatsangehörigen aus der Ukraine vor allem in Großstädten hoch. Den höchsten absoluten Wert unter allen Landkreisen und kreisfreien Städten weist in der Statistik Berlin auf. Somit ließe sich nach KOSYAKOVA (2022) schlussfolgern, dass sich ukrainische Staatsangehörige zwar ähnlich wie die übrige migrantische Bevölkerung auf Städte und Ballungsräume konzentrieren, aber sehr viel stärker als andere Nationalitäten in Ostdeutschland vertreten sind. Aktuell können noch keine Aussagen über die sich durch Fluchtmigration ändernde Regionalstruktur der ukrainischen Communities getroffen werden, doch Netzwerkeffekte sprechen dafür, dass die bestehende Struktur auch die künftige Regionalstruktur beeinflussen wird (KOSYAKOVA 2022: 2). 

Eine gelingende Integration in den deutschen Arbeitsmarkt hängt jedoch nicht nur von der regionalen Verteilung der Geflüchteten und deren (Aus-) Bildungsniveau ab. Verschiedene Faktoren ermöglichen und begünstigen diesen Prozess. In Anbetracht dessen, dass überwiegend Frauen und Kinder in Deutschland Zuflucht vor dem Krieg in der Ukraine suchen, ist anzunehmen, dass die Integration der ukrainischen Frauen stark von der Integration ihrer Kinder in das Bildungs- und Betreuungssystem abhängt. Schon bei deutschen Frauen zeigt sich, dass die Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht ausreichend sind. Laut BUNDESMINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFT UND KLIMASCHUTZ gaben 42 Prozent der arbeitslosen Frauen im Alter zwischen 25 und 49 Jahre als Grund die Betreuung von Kindern und anderen Familienangehörigen an. Weiterhin entscheiden über die Integration in den Arbeitsmarkt noch andere Faktoren, wie beispielsweise die Anerkennung von Bildungsabschlüssen oder der Zugang zu Deutschkursen, weshalb davon auszugehen ist, dass die Integration eine längere Zeit in Anspruch nehmen wird und nur schrittweise erfolgen kann. Nichtsdestotrotz prognostizieren Wirtschaftswissenschaftler:innen, dass Deutschland aufgrund seiner geographischen Lage, des vergleichsweise hohen Pro-Kopf-Einkommens und der Arbeitsmarktlage zu einem der wichtigsten Zielländer für Geflüchtete aus der Ukraine werden wird (BRÜCKER et al 2022: 13). 



Literaturverzeichnis 


BOSSLER, M., POPP, M. (2022, 23. März): Viele geflüchtete Ukrainerinnen könnten mittelfristig in Engpassberufen unterkommen. IAB-Forum. https://www.iab-forum.de/viele-gefluechtete-ukrainerinnen-koennten-mittelfristig-in-engpassberufen-unterkommen/, letzter Zugriff am 23.03.2022 

BRÜCKER, H.; GOßNER, L.; HAUPTMANN, A.; JASCHKE, P.; KASSAM, K.; KOSYAKOVA, Y.; STEPANOK, I. (2022): Die Folgen des Ukraine-Kriegs für Migration und Integration: Eine erste Einschätzung. IAB-Forschungsbericht 02/2022. Nürnberg. 

BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT (o.J.): Zulassung zum Arbeitsmarkt. https://www.arbeitsagentur.de/fuer-menschen-aus-dem-ausland/voraussetzungen-arbeiten-in-deutschland, letzter Zugriff am 23.03.2022 

BUNDESMINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFT UND KLIMASCHUTZ (o.J.): Fachkräfte für Deutschland. https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/fachkraeftesicherung.html#:~:text=Der%20Fachkr%C3%A4ftemangel%20unterscheidet%20sich%20nicht,in%20Engpassberufen%20mit%2086%20bzw, letzter Zugriff am 28.06.2022 

EUROPÄISCHE UNION (2001, 7. August): Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L212. Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten. https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32001L0055&from=DE, letzter Zugriff am 23.03.2022 

EUROPÄISCHE UNION (2022, 4. März): Amtsblatt der Europäischen Union L71. Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes. https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32022D0382&from=DE, letzter Zugriff am 23.03.2022 

FAUS, R.; STORKS, S. (2019): Das pragmatische Einwanderungsland. Was die Deutschen über Migration denken. Friedrich-Ebert-Stiftung: Bonn. http://library.fes.de/pdf-files/fes/15213-20190402.pdf, letzter Zugriff am 23.03.2022 

HASS, C. (2022, 18. März): Integration von Flüchtlingen. ZEIT ONLINE Arbeit. https://www.zeit.de/arbeit/2022-03/ukraine-russland-krieg-arbeitsmarkt-fluechtlinge-integration-herbert-bruecker-interview/komplettansicht, letzter Zugriff am 28.06.2022 

KEITEL, C. (2022, 29. März): „Wir sehen gute Integrationsperspektiven für die ukrainischen Geflüchteten“. IAB-Forum. https://www.iab-forum.de/wir-sehen-gute-integrationsperspektiven-fuer-die-ukrainischen-gefluechteten/, letzter Zugriff am 28.06.2022 

KOSYAKOVA, Y. (2022): Regionalstruktur ukrainischer Communities in Deutschland. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit. https://doku.iab.de/arbeitsmarktdaten/ADuI_ukrainische_Communities.pdf, letzter Zugriff am 28.06.2022 

STATISTA RESEARCH DEPARTMENT (2022, 30. Mai): Gesamtzahl der offiziell gezählten Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland bis Ende April 2022. Statista. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1294820/umfrage/kriegsfluechtlinge-aus-der-ukraine-in-deutschland/#professional, letzter Zugriff am 26.06.2022 

TAGESSCHAU (2022, 19. März): Zahl der Kriegsflüchtlinge steigt. Tagesschau. https://www.tagesschau.de/inland/gefluechtete-ukraine-lebensmittel-101.html, letzter Zugriff am 23.03.2022

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