Die sozialen und ökologischen Folgen der Externalisierungsgesellschaft am Beispiel des Staudammbruchs in Brumadinho 2019. Ein Essay von Anna Reinsch.
Mit der Elektromobilität wird im „grünen Kapitalismus“ (Kaufmann & Müller 2009: 157) eine Schonung oder gar Unabhängigkeit von Ressourcen suggeriert – schließlich wird kein Diesel oder Benzin benötigt. Verkannt wird dabei, dass auch für den Bau von Elektroautos zahlreiche Ressourcen benötigt werden. Stahl ist nach wie vor das am meisten verwendete Material im Autobau und Eisenerz dessen wichtigster Rohstoff. Brasilien ist einer der größten Eisenerzförderer weltweit, etwa die Hälfte des deutschen Eisenerzbedarfs wird von Brasilien gedeckt (Russau 2016: 123). Vor allem die Autoindustrie ist auf den Import von Eisenerz für die Stahlherstellung angewiesen. Bleiben geplante Lieferungen aufgrund eines Staudammbruchs einer Eisenerzmine aus, kann es zu Problemen in der Produktion kommen. 2019 brach ein solcher Staudamm eines Rückhaltebeckens mit toxischem Schlamm einer Eisenerzmine im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais – und dies war nicht der erste Fall (Russau 2016: 124). Die Folgen der Katastrophe sind bis heute verheerend.
Dass dieser Staudammbruch ein
Abbild der global herrschenden Ungleichheitsverhältnisse ist, ist traurige
Realität. Der Fall steht für die systematisch ungleiche Verteilung von Chancen
und Risiken gesellschaftlicher Entwicklungen, deren Gewinner und Verlierer
immer dieselben sind. Eine Erklärung, warum der Staudammbruch in Brumadinho
exemplarisch für die Auslagerung der sozialen und ökologischen Kosten des
Wohlstands der Externalisierungsgesellschaft des globalen Nordens steht, soll
vorliegender Essay liefern.
Bergbau im Süden von Minas Gerais, Bild: Anna Reinsch |
Externalisierungsgesellschaft und imperiale Lebensweise
Unter Externalisierung wird eine
Strukturdynamik der Ausbeutung von Arbeit und Natur und der Auslagerung von
sozialen und ökologischen Kosten verstanden (Lessenich
2018: 25). Externalisieren bedeutet dabei das Verlagern aus dem Inneren nach
außen, das Auslagern negativer
Effekte kapitalistischen Wirtschaftens hochindustrialisierter Gesellschaften
auf Länder und Menschen in weniger entwickelte, meist im globalen Süden
gelegene Weltregionen (Lessenich
2016: 24). Gleichzeitig liefert das „Außen“ billige Arbeitskraft und die
stofflichen Voraussetzungen der kapitalistischen Verwertung, beispielsweise
Rohstoffe wie Eisenerz.
Dabei werden nicht nur fremde
Ressourcen in diesen Regionen ausgebeutet, sondern auch Kosten auf
Außenstehende abgewälzt, Gewinne im Inneren angeeignet und der eigene Aufstieg
befördert, während gleichzeitig der Fortschritt anderer verhindert wird (Lessenich 2016: 25). Getragen wird diese
Logik des kapitalistischen Weltsystems von ganz realen sozialen Akteuren. Die
in der großen Externalisierungsgesellschaft des globalen Norden Lebenden, leben
auf Kosten und zu Lasten anderer. Sie leben über den Verhältnissen anderer,
indem sie andere Lebenswelten zerstören, um die eigenen Lebenschancen zu sichern
(Lessenich 2018: 23). Bedeutend
dabei ist der funktionale Zusammenhang der globalen Ungleichheitsstruktur: Weil
es den einen schlecht oder weniger gut geht, geht es den anderen gut oder
besser (Lessenich 2016: 23).
Dabei ist die Form dieser
gesellschaftlichen Entwicklung keineswegs neu und darf nicht als zeitliche
Dimension betrachtet werden. Dass in Externalisierungsgesellschaften oder in
der „großen Externalisierungsgesellschaft des Globalen Nordens“ (Lessenich 2016: 25) gelebt wird, ist
nicht erst mit dem Auto-Boom der Fall. Bereits Galeano
merkte 1973 (48) an, „dass [sich] einige Länder […] im Gewinnen und andere im
Verlieren spezialisieren“. Es ist vielmehr eine bestimmte Struktur, die
kapitalistische Gesellschaften seit Anfang an als Externalisierungsgesellschaften
beschreibt. Zwar können sich
Mechanismen oder globale Konstellationen ändern, doch die Struktur der
Externalisierungsgesellschaft beruht seit jeher auf den Kosten anderer (Lessenich 2016: 26).
Neben der Reichtumsproduktion und
dem Wohlstandsgenuss zu Lasten anderen und der Auslagerung dieser Kosten und
Lasten des Fortschritts in anderen Ländern, ist noch ein weiterer Aspekt der
Externalisierungsgesellschaft bedeutend. Es geht um die ideologische
Verschleierung des Wissens um diese Doppelgeschichte, wodurch die globale
Ungleichheitskonstellation unsichtbar bleibt (Lessenich
2016: 17). Wird von dem Wohlstand der einen gesprochen, werden im (kollektiven)
Bewusstsein die Nöte der Menschen andernorts verdrängt, die mit diesem in
funktionalem Zusammenhang stehen. Das Vergessen über diese globale
Ungleichheitskonstellation geschieht dabei nicht aus einem Versehen, sondern
ist Resultat eines perfiden vergessen Wollens (Lessenich
2016: 24).
Während
die Theorie der Externalisierung vor allem die strukturellen Dynamiken offenlegen
kann, bleiben dabei aber zum Beispiel ganz konkrete, individuelle Handlungen
unterbeleuchtet. Hier kann die Theorie um das Konzept der „imperialen
Lebensweise“ von Brand und Wissen (2017) ergänzt werden.
Auch der Begriff der imperialen
Lebensweise zielt darauf ab, globale Ungleichheiten zu analysieren, die nicht
nur aus ungleichen politischen und ökonomischen Verhältnissen resultieren,
sondern auch aus der dominierenden Lebensweise hochindustrialisierter Staaten (Brand & Wissen 2017: 14). „Imperial“ meint dabei nicht die
Herrschaft über eine bestimmte Gruppe, sondern „den Zugriff des Kapitalismus
auf sein Äußeres“ (Brand & Wissen 2017: 43). Diese Lebensweise
beruht auf dem Zunutzemachen von Natur und Arbeitskraft weltweit und der
Externalisierung der dabei anfallenden sozialen und ökologischen Kosten (Wissen & Brand 2018: 46). Der Begriff verweist auf die Produktions-,
Distributions- und Konsumnormen, die in den Alltagsstrukturen der Bevölkerung
des globalen Nordens eingelassen sind. Wie auch bei der
Externalisierungsgesellschaft betont wird, geht es auch bei der imperialen
Lebensweise um das Ausblenden der der Normalität zugrundeliegenden Zerstörung (Wissen & Brandt 2018: 51).
![]() |
Landschaft um Brumadinho, Bild: Anna Reinsch |
Der Staudammbruch in Brumadinho
Wie die sozialen und ökologischen
Kosten unseres Wohlstands ausgelagert werden und welchen Preis andere Menschen
dafür zahlen, zeigt sich am Staudammbruch von Brumadinho. Dort brach am 25.
Januar 2019 der Staudamm einer Eisenerzmine des Minenbetreibers Vale, in dessen
Folge eine riesige und giftige Schlammlawine Menschen, Tiere und Häuser unter
sich begrub. Die Katastrophe forderte 272 Menschenleben, verseuchte ganze
Ökosysteme und schnitt tausende
Menschen von der Trinkwasserversorgung ab. Trotz des Versagens des Warnsystems,
waren erste Anzeichen einer nahenden Katastrophe zu erkennen – und wurden
ignoriert. Der in München ansässige und weltweit tätige Überwachungs- und
Prüfkonzern TÜV Süd, eine deutsche Vorzeigemarke und Garant von Sicherheit und
Zuverlässigkeit, zertifizierte den Staudamm wenige Monate zuvor, trotz der
Kenntnisse über Mängel am Damm, als standfest (Deutschlandfunk
Kultur 2021). Ein juristisches Urteil über Schadensersatzforderungen
gegen TÜV Süd steht noch aus. Bis heute sind die Folgen des Dammbruchs immens.
Die psychische Belastung der Überlebenden ist enorm, die Selbstmordrate hoch
und die Zukunft scheint aussichtslos. Nach wie vor sind die Menschen in der
Region aufgrund der Trinkwasserverseuchung auf Wasserlieferungen angewiesen,
die Flüsse sind ohne Leben und Ökosysteme irreparabel zerstört.
Obwohl über 200 der 790 Staudämme
in Minas Gerais als gefährdet gelten und damit zu jeder Zeit Ursache einer
erneuten Katastrophe werden könnten, wird an der gängigen Abbaupraxis in der
Region nicht viel geändert. Im Gegenteil, weil immer mehr Ökonomien auf das
„Außen“ zugreifen, wird die Ausbeute der Minen erhöht und die
Rückhaltekapazitäten der Staubecken durch „Optimierungsarbeiten“ erweitert (Russau 2016: 126). Aufgrund des Bedarfs
der imperialen Lebensweise der kapitalistischen Gesellschaften des Nordens
werden sich Eisenerzvorkommen in Minas Gerais zu Nutze gemacht, um den enormen
Ressourcenbedarf zu decken. Die ökologischen Kosten dafür trägt die Natur nicht
nur im Falle der Katastrophe eines Dammbruchs, sondern alltäglich mit der
Zerstörung der Ökosysteme durch den Abbau des Eisenerzes und der Ablagerung des
toxischen Schlamms. Wie sehr die Natur durch diesen täglichen Raubbau leidet,
ist in der Region überall zu sehen:
„Die Minen wirken
wie klaffende Wunden der Natur, die keine Aussicht auf Heilung haben. Diese
Wunden werden mit der unstillbaren Gier nach Rohstoffen der industrialisierten
Staaten des globalen Nordens tagtäglich größer und tiefer. Der rote Staub, der
sich an allem menschlich-materiellem festklammert, erinnert an Blut – das Blut
aus den Wunden der Natur.“ (Vignette vom 19.09.2022, Anna Reinsch)
Auch die Arbeitskraft vor Ort wird
für den Rohstoffabbau vor Ort genutzt und gerade dadurch ausgebeutet. Trotz der
teilweise geringen Bezahlung hängen für die Menschen vor Ort ihre Existenzen an
den Minen, da es kaum alternative Beschäftigungsmöglichkeiten gibt. Der
Staudammbruch von Brumadinho verdeutlicht die Sicherung von Lebenschancen der
einen bei gleichzeitiger Zerstörung der Lebenswelt anderer. Dabei wurde den
Menschen vor Ort mit dem Dammbruch nicht nur die physische Grundlage des Lebens
vor Ort genommen, sondern auch Zukunftsperspektiven. Dieses Zunichtemachen der
sozialen Lebensgrundlagen wird in unmittelbarer Nachbarschaft zum gebrochenen
Staudamm ersichtlich:
„Wir sind in dem
kleinen Ort Córrego do Feijão, ein Ort ohne Leben, es ist still. Die Mitte des
Dorfes wird von einem modern angelegten Park geprägt, der fehl am Platz wirkt.
Man spürt, dass dies einst ein anderer Ort war. Die Häuser sind unbewohnt und
stehen leer, die Bewohner_innen bei der Katastrophe gestorben oder aufgrund der
zermürbenden Aussichtslosigkeit weggezogen. Hier wird mir ganz deutlich
vor Augen geführt, wer für meinen Wohlstand leiden muss.“ (Vignette vom
19.09.2022, Anna Reinsch)
Brumadinho zeigt, wie soziale und
ökologische Schäden einfach ausgelagert werden. Was wir an Leid und Elend mit
unserem Wohlstand produzieren, das lassen wir woanders von Menschen und der
Natur bewältigen – eben „irgendwo in Brasilien“. Doch davon merken wir nichts,
wenn wir das nächste Mal in unserem SUV abbiegen.
Und doch steht der Staudammbruch
von Brumadinho nur exemplarisch für viel Ausbeutung, Leid und Zerstörung
weltweit, jeden Tag. Alltäglich produzieren und konsumieren wir, ohne bewusst
wahrzunehmen, was oder wer dies ermöglicht.
Doch was tun gegen diese
Missstände? Ein viel diskutierter Aspekt auf diese Frage ist das geplante
EU-Lieferkettengesetz. Dies soll Unternehmen dazu bringen, die
Produktionsbedingungen ihrer weltweiten Lieferketten verstärkt in den Blick zu
nehmen und damit verhindern, dass gegen Menschenrechte oder Umweltstandards
verstoßen wird. Vorgesehen ist, dass Opfer von Menschenrechtsverletzungen oder
Umweltschäden Schadenersatzforderungen vor europäischen Gerichten geltend
machen können (Europäische Kommission
2022). Doch bereits jetzt hat die Bundesregierung angekündigt das Gesetz
deutlich abzuschwächen und die zivilrechtliche Haftung für Unternehmen durch
eine „Safe-Harbour-Klausel“ zu reduzieren, zum Beispiel für Unternehmen wie TÜV
Süd.
Fazit
Zusammengenommen zeigt sich, dass
wir erstens in einer großen Externalisierungsgesellschaft des Globalen Nordens
leben, die soziale, politische und ökologische Schäden ihres Wohlstands auf
Regionen des Globalen Südens auslagert. Wir leben dabei auf Kosten und zu
Lasten anderer, leben unseren Wohlstand, während wir diesen anderen
vorenthalten. Zweitens muss Externalisierung als strukturelle Dimension
betrachtet werden und ist keine neuartige zeitdiagnostische Formel. Ergänzt
werden kann diese Erläuterung drittens mit dem Querverweis auf das Konzept der
imperialen Lebensweise. Der Staudammbruch von Brumadinho zeigt dabei viertens
nicht nur die verheerenden Folgen des Externalisierens auf. Der Fall
veranschaulicht außerdem, dass auch im Nachgang der Katastrophe die globale
Ungleichheitskonstellation möglichst unsichtbar bleiben soll. Das geplante
EU-Lieferkettengesetz könnte eine mögliche Verbesserung der weltweiten
Produktionsbedingungen sein, wenn sich Unternehmen nicht wieder durch
„Safe-Harbour-Klauseln“ der Verantwortung entziehen können.
„Die
Wahrscheinlichkeit, dass auch in deutschen Autos Erze aus Brumadinho stecken,
ist hoch“ (Deutschlandfunk Kultur
2021). An eben jenen elektrischen oder hybriden Autos, die wir mit unserem
umweltpolitischen Engagement und dem auffällig zur Schau gestellten
Umweltbewusstsein so begehren, klebt das Blut und Leid der Opfer der
Katastrophe. Dies jedoch verschweigen wir, wie auch die zahlreichen
Berichterstattungen über solche Katastrophen. Berichtet wird über die tragische
Verseuchung der Flüsse wie den Rio Doce, ohne unsere Rolle im
Verursachungszusammenhang zu betonen. Mit dem Reinwaschen der Flüsse nach einer
gewissen Zeit scheint von der einstigen Katastrophe oberflächlich nicht mehr
viel übrig zu sein und es wird vergessen, zur Tagesordnung übergegangen – ganz
im Sinne der Externalisierungsgesellschaft, damit es weiterhin heißen kann:
„Unser Wohlstand, euer Schlamm“ (Deutschlandfunk
Kultur 2021).
![]() |
Gedenken an die Opfer der Katastrophe, Bild: Cristiane Mattos / Reuters |
Literaturverzeichnis
Deutschlandfunk Kultur (2021): Unser Wohlstand,
euer Schlamm. Dammbruch in Brasilien. Online abrufbar unter
https://www.deutschlandfunkkultur.de/dammbruch-in-brasilien-unser-wohlstand-euer-schlamm-100.html
(10.11.2022).
Europäische Kommission (2022): Gerechte und
nachhaltige Wirtschaft: Kommission legt Unternehmensregeln für Achtung der
Menschenrechte und der Umwelt in globalen Wertschöpfungsketten fest. Online
abrufbar unter https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_1145
(08.11.2022).
Galeano, Eduardo (1973): Die offenen Adern
Lateinamerikas. Die Geschichte eines Kontinents von der Entdeckung bis zur
Gegenwart. Wuppertal: Hammer.
Kaufmann, Stephan / Müller, Tadzio (2009): Grüner
Kapitalismus. Krise, Klimawandel und kein Ende des Wachstums. Berlin: Karl
Dietz Verlag.
Lessenich, Stephan (2016): Neben uns die Sintflut. Die
Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Berlin: Hanser Verlag.
Lessenich, Stephan (2018): Grenzen der Ausbeutung? Wie
der globale Norden über die Verhältnisse des Südens lebt. In: Becker,
Maximilian / Reinicke, Mathilda (Hg.): Anders wachsen! Von der
Krise der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft und Ansätzen einer
Transformation. München: oekom, S. 21–42.
Russau, Christian (2016): Abstauben in Brasilien. Deutsche
Konzerne im Zwielicht. Hamburg: VSA Verlag.
Wissen, Markus / Brand, Ulrich (2017): Imperiale
Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus.
München: oekom.
Wissen, Markus / Brand, Ulrich (2018):
Imperiale Lebensweise. Zum Gebrauchswert eines Konzepts. In Becker,
Maximilian / Reinicke, Matilda (Hg.): Anders wachsen! Von der
Krise der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft und Ansätzen einer
Transformation. München: oekom, S.43–56.