Die Stadt Rio de Janeiro ist wie kaum eine andere durch sichtbare Kontraste geprägt. Der Kontrast zwischen extremer Armut und Wohlstand spiegelt sich
städtebaulich wider und ist in der Architektur der Stadt zementiert. Am
Beispiel des im Zuge der in Rio de Janeiro ausgetragenen Sommerolympiade 2016
neugestalteten Hafenviertels lassen sich Verdrängung einer schrecklichen
Historie, heutige europäische Raumproduktionen und ausgrenzender Städtebau
darstellen. Als Beispiel wird sich im Folgenden mit der Umgestaltung des alten
Hafens, der heutigen Hafenmeile und dem sich darin befindenden Porto
Maravilha auseinandergesetzt. Aus historischer, phänomenologischer sowie
funktionaler Perspektive werden Machtstrukturen innerhalb der
Umgestaltungsmaßnahme aufgedeckt.
Museu do Amanhã, Bild: Johanna Winterberg |
Waterfront Development und Ortsbeschreibung
Die
Umgestaltungsmaßnahme an der Wasserkante Rio de Janeiros lässt sich mit dem
architektonisch und städtebaulich geprägten Begriff Waterfront Development
beschreiben. Unter der Bezeichnung werden städtebauliche Großprojekte
zusammengefasst, die das Ziel der Stadtentwicklung und wirtschaftlichen
Aufwertung verfolgen. Sie meint die städtebauliche Planung und Umgestaltung
eines an der Wasserlinie gelegenen Stadtteils oder -quartiers, das in der Regel
innenstadtnah gelegen ist. Brachgefallene Hafengebiete in Küstenstädten haben durch
Strukturwandel heute ihre infrastrukturelle Handelsfunktion verloren und sollen
durch eine Umnutzung revitalisiert werden. Durch die Aufwertung der an der
Wasserkante gelegenen Gebiete wird zudem eine Wiederanbindung der Innenstadt an
das an der Stadt liegende Gewässer geschaffen, wodurch sich eine gesteigerte
Aufenthaltsqualität für Tourist:innen in den Innenstädten erhofft wird. Durch
die Umplanung wird der Stadtteil als Aushängeschild der Stadt genutzt und soll
so zu einem positiven Image im globalen Städtewettbewerb beitragen (Pinto
und Lopes dos Santos 2022: 2f; Izaga und Silveira 2018: 353).
Der
hier im Fokus stehende Porto Maravilha und die angrenzende
Hafenmeile wurden 2014 als Vorbereitungsmaßnahme für die olympischen
Sommerspiele neu geplant. Nicht nur Favelas wurden als Vorbereitung auf das
Großereignis unter dem Diskurs der „Sichtverschmutzung“ aus dem Stadtbild
entfernt und die darin lebenden Bewohner:innen vertrieben, auch in dem
innenstadtnahen Hafenviertel hat eine Umnutzung stattgefunden.
Historische Perspektive – Begrabene Vergangenheit de Porto Maravilha
Der
an der Guanabara Bucht liegende Porto Maravilha ist ein Ort mit schrecklicher
Geschichte. Aus historischer Perspektive lässt sich von einer begrabenen
Vergangenheit des Areals sprechen. Unter den Bodenplatten des Platzes ist
buchstäblich eine düstere Historie der Stadt Rio de Janeiro begraben. Das
Hafengebiet diente vom 16. bis zum 19. Jahrhundert als Umschlagsort von
versklavten Menschen. Vornehmlich aus Zentral- und Westafrika verschleppte POCs
wurden hier in Schiffen an Land gebracht und verkauft. Der Ort ist auf dem Blut
vieler Tausend Menschen, die hier vergraben liegen, weil sie die Überfahrt über
den Atlantik nicht überlebten, erbaut. Noch Ende des letzten Jahrhunderts
fanden Anwohnende menschliche Knochen beim Umgraben im Garten nicht weit vom
Hafengebiet entfernt. Der größte Sklav:innen-Friedhof, für welchen die
Bezeichnung Massengrab treffender ist, mit schätzungsweise 40.000
Leichen befindet sich im neu gestalteten Gebiet (Izaga
und Silveira 2018: 3).
Heute
erinnert nur weniges an die schreckliche Vergangenheit. Eine Darstellung oder
Aufarbeitung der Historie findet auf dem Platz nicht statt. Besuchende werden
über die Taten nicht informiert und keinerlei Erinnerungsdenkmal wurde
errichtet. Die Historie wurde im Zuge der Umgestaltung sehr bewusst nicht
dargestellt und durch eine europäische Gestaltung überprägt. Unter der modernen
Neugestaltung liegt die schwarze Geschichte Brasiliens buchstäblich begraben.
Phänomenologische
Perspektive – Subjektive Raumbeschreibung anhand einer Vignette
Neben
Erfahrungen einer Südbrasilien Exkursion und Fachliteratur basiert dieses Essay
auf einer Ortsbegehung, welche in Form einer Vignette als Datenmaterial genutzt
wird. Das Datum der Vignette fungiert als subjektive Ortsbeschreibung, die
hilft die Atmosphäre des Untersuchungsgebietes einzufangen und dient so als
grundlegende Ortsbeschreibung um die städtebauliche Entwicklung der Waterfront
Rio de Janeiros zu hinterfragen. Gleichzeitig bietet sie Raum für die Betonung
der Subjektivität dieser wissenschaftlichen Arbeit mit einer weißen
westeuropäisch sozialisierten Frau als Autorin.
Der
geometrisch geplante Platz wirkt beinahe steril. Große Betonplatten wurden als
Boden gewählt, in die mehrere Grünflächen integriert sind. Vereinzelt stehen
Bänke herum. An der Wasserkante erstreckt sich das Museu do Amanhã. Ein modern
wirkender Bau, der an ein Walskelett erinnert. Die Sonne scheint und der Platz
ist voller Menschen, die sich in der Weitläufigkeit des Platzes verteilen.
Schick gekleidete augenscheinliche Tourist:innen schießen von sich Fotos vor
dem Museum, um die Atmosphäre in Bildern festzuhalten. Einige Straßenhändler
verkaufen in fahrbaren Ständen frittiertes Fleisch und Käse, Churros und Açai.
Eine als Mickey Mouse verkleideter Person lässt sich mit der Hoffnung auf
Bargeld mit Kindern von Tourist:innen fotografieren.
Etwas weiter von der Wasserkante entwerft ist ein etwa drei Meter großer
weißer Rahmen installiert. Er trägt die Aufschrift #EnergieQueVemDaGente –
Energie, die von Menschen erzeugt wird. In der Mitte des Rahmens prangt das
muschelförmige Logo des Mineralölkonzerns Shell. Die Installation scheint dafür
gedacht zu sein, sich in ihm, mit dem Shell-Logo, fotografieren zu lassen. An
der Wasserkante grillt eine Familie – sie sticht aus dem Bild heraus, da sie
weniger schick gekleidet und sich scheinbar in ihrem Alltag auf dem Platz
aufhält. Die Stimmung wirkt positiv. Niemand ist gestresst, die Sonne scheint
und die meisten Menschen scheinen gerne an dem Ort zu verweilen. Gesprochen
wird vornehmlich Portugiesisch, aber auch andere Sprachen europäischen
Ursprungs, wie Englisch, Französisch, Spanisch und Deutsch sind vertreten. Wir,
als europäische Reisegruppe, fühlen uns auf dem Platz heimisch. Er weckt
Assoziationen an andere Weltstädte mit ähnlich gestalteten ehemaligen
Hafengebieten, wie Hamburg oder Amsterdam.
Vignette
vom 11.10.2022, Laura Röbe-Oltmanns
Als
eines der Highlights des Quartiers gilt das von dem spanisch-schweizerischen
Star-Architekten Santiago Calatrava entworfene Museu do Amanhã – Museum
von Morgen. Calatrava ist bekannt für Gebäude in New York, Barcelona,
Berlin oder Zürich oder Malmö. Die Projekte erstrecken sich über den gesamten
Globus und ähneln sich dennoch stark in ihrer Architektur. Sie erscheinen
austauschbar zwischen den Weltmetropolen und sprechen so für die Überprägung des
Ortes durch einen inszenierten Raum des Globalen. Es fehlt an Ortsbezug, durch
die Ausbreitung europäischer Architekturstile.
Der
von Shell errichtete Fotospot auf dem Porto Maravilha kann als ein
Synonym für das, an der Waterfront Rio de Janeiros agierende globale Kapital
gesehen werden. Shell, als global agierender Mineröl- und Gaskonzern hat
augenscheinlich bei der Umgestaltung des Platzes mitgewirkt und auch das Museum
der Zukunft, gemeinsam mit dem Kreditinstitut Santander finanziell gesponsert.
Neben dem Fotorahmen lässt sich auch die verkleidete Mickey Mouse metaphorisch als Verkörperung einer Raumproduktion des globalen Nordens interpretieren. Die Symbolfigur für westlichen Medienkapitalismus verkörpert die Ausbreitung nordamerikanischer, westlicher Kultur und reicht als Verkleidung, um Tourist:innen auf sich zu lenken. Der Schausteller, vermutlich Brasilianer, greift auf die US-amerikanische Kultur zurück, um Tourist:innen anzulocken. Hier wirkt kulturelle Ausbreitung als Fortführung kolonialer Strukturen und wird ein durch den globalen Norden geprägtes Ideal reproduziert.
Vorplatz des Museu do Amanhã Foto: Laura Röbe-Oltmanns |
Funktionale
Perspektive – Wem gehört die Stadt?
In
städtischen Umgestaltungsmaßnahmen muss gefragt werden, wer die Adressat:innen
der Umgestaltung sind. Im übertragenen Sinne: Wer nutzt den Platz? Für
wen ist der Platz gemacht? Oder: Wem gehört die Stadt?
Der
Porto Maravilha übernimmt in erster Linie eine Repräsentationsfunktion.
Vornehmlich nationale und teilweise internationale Tourist:innen halten sich
als Konsument:innen auf, zumeist vor oder nachdem sie das ansässige Museum
besuchen. Der Platz fungiert als internationales Aushängeschild Rio de
Janeiros, das das globale Image der Stadt verbessern soll. Neben den
Besucher:innen, die in ihrer Freizeit auf dem Platz verweilen, versuchen
Verkäufer:innen und Straßenkünstler:innen am Tourismus Geld zu verdienen.
Nebenbei legt das Museum, das die Zukunft der Erde aus sozial-ökologsicher
Perspektive thematisiert, den Fokus auf den Handlungsspielraum von Individuen
und erwähnt nur am Rande strukturelle Probleme in Form von globalen
Ausbeutungsketten. Außer für den
Straßenverkauf nutzen die Bewohner:innen Rio de Janeiros den Platz wohl kaum.
Die Minderheit der brasilianischen Bevölkerung, die es sich finanziell leisten
kann in den Urlaub zu fahren und Museen zu besuchen nimmt am Porto Maravilha
verhältnismäßig viel Raum ein. Eine Minderheit der Gesellschaft tritt als
Mehrheit auf. Ärmere Teile der Bevölkerung werden weiter an den Rand der Stadt
und, in einem reproduzierenden Verständnis von Raum und Gesellschaft, an den
Rand der Gesellschaft gedrängt.
In
Stadtplanungsprojekten, die sich dem Konzept des Waterfront Developments
zuordnen lassen, sind Machtbeziehungen des Planungs- und Umsetzungsprozesses
erkennbar (Pütz
und Rehner 2007: 36). Unterschiedliche Akteur:innen sind
an städtebaulichen Planungsprozessen beteiligt. Durch zementierte Governance-Strukturen
wird der Großteil der Bevölkerung in neoliberalen Planungsprozessen zu oft
nicht mitgedacht (Pütz
und Rehner 2007: 36).
Die
Umgestaltung des Platzes ist als architektonische materielle Ausprägung einer
Eurozentrierung und neoliberale Stadtplanung zu sehen. Die Umgestaltung
hat Verdrängung in zweierlei Hinsicht bewirkt. Konkret findet einerseits eine
direkte Verdrängung durch die Umnutzung des Geländes statt. Bewohner:innen, die
sich vor der Umgestaltung in dem Viertel aufhielten verlieren den Zugang durch
eine veränderte Funktion des Ortes. Andererseits folgen auf die Umgestaltung
Gentrifizierungsprozesse, die eine weitere Verdrängung bewirkten, welche sich
bis in den benachbarten Stadtteil Little Africa erstreckt. Die Pioniere,
die Litte Africa nach der Sanierung als Ausgehviertel nutzten, sind dabei vor allem
weiß und der brasilianischen Mittelschicht angehörig. Die Stadtplanung wirkt
hier rassistisch und klassendiskriminierend.
An
einer Außenfassade der ehemaligen Lagergebäude ist ein haushohes Graffiti
angebracht. Es stellt Personen dar, die weltweite indigene Gruppen
repräsentieren soll. Das Graffiti ist ebenfalls als Vorbereitung für die
Olympischen Spiele entstanden. Entworfen wurde das 3000 Quadratmeter große
Wandbild mit dem Titel „Mural Etnias“ vom brasilianischen Künstler
Eduardo Kobra. Fünf Gesichter repräsentieren indigene Gruppen auf fünf
Kontinenten. Durch die Gemälde wird zum einen versucht Machtasymmetrien
innerhalb der brasilianischen Gesellschaft zu vertuschen. Zum anderen wird die
Geschichte der Indigenen romantisiert und auf wenige Beispiele beschränkt.
Gesamt Nord- und Südamerika wird anhand des Gesichtes eines grimmig blickenden
älteren Mannes dargestellt, wodurch die Diversität eines gesamten Kontinents
genommen und für die Weltöffentlichkeit vereinfacht wird.
Dem
Graffiti fehlt, ähnlich wie dem Museum, der Ortsbezug Es könnte in jedem Ort
mit einer kolonialen Ausbeutungshistorie platziert sein und hätte die gleiche
Bedeutung. Durch die Darstellung fünf unterschiedlicher indigener Völker werden
die dargestellten Bevölkerungsgruppen zudem als anders zu der
Mehrheitsgesellschaft dargestellt. Die Graffitis wurden nicht etwa von der
unterdrückten Bevölkerungsgruppe selbst angebracht und so Raum beansprucht,
sondern von Entscheidungsträger:innen in Auftrag gegeben, um die brasilianische
Gesellschaft als vielfältig und diskriminierungsfrei darzustellen.
Sicherlich
nicht allein ursächlich aber dennoch als Initialzündung genutzt für die
Quartiersumgestaltung wurden die olympischen Spiele. Auch das Sportgroßereignis
ist geprägt durch globale Machthierarchien. Reiche Staaten nehmen auch im
olympischen Medaillenspiegel die ersten Ränge ein. Globales Kapital wirkt auch
in sportlichen Wettbewerben, in denen Nationen scheinbar gleichberechtigt
antreten. Gleichzeitig wird in den Austragungsorten Infrastruktur geschaffen,
die nicht an das alltägliche Leben der Bewohner:innen angepasst ist (Pütz
und Rehner 2007, 40; Pinto und Lopes dos Santos 2022: 33). Sechs Jahre nach
der Entstehung des Graffitis hat die Witterung ihre Spuren hinterlassen. Die
einst kräftigen Farben des Graffitis sind ausgeblichen – vielleicht eine
Metapher für den Kampf, den die Stadt Rio de Janeiros bis heute mit dem
olympischen Erbe austrägt.
Der
Umbau des Hafenviertels in Rio de Janeiro lässt sich in eine Reihe von
städtebaulichen Umgestaltungsmaßnahmen stellen, die keinen kulturellen
Ortsbezug besitzen. In der Umgestaltung des Hafenviertels lassen sich koloniale
Kontinuitäten erkennen. Wie einst die Erbauung von Rat- und Opernhäusern durch
portugiesische Kolonisten findet auch im 21. Jahrhundert eine Raumaneignung
durch europäische Idealvorstellungen von städtebaulichen Maßnahmen statt. Durch
unter dem Deckmantel der Aufwertung durchgeführte Stadtentwicklungen wird eine
weitere Verdrängung der ohnehin benachteiligten Bevölkerungsgruppen
beschleunigt. Der kolonialen Vergangenheit wird weiterhin kaum Raum
beigemessen, sogar genommen, und der ohnehin knappe städtische Raum
dysfunktional allein für einen privilegierten Teil der Bevölkerung vorgehalten.
Die Ausbreitung von Eurozentrismus, hier in Form von europäischer
Raumproduktion, hat mit dem Ende der Kolonialisierung und der Sklaverei in
Brasilien nicht geendet, sondern wirkt bis heute.
Literatur
Izaga, Fabiana Generoso de; Silveira, Amanda Barbosa de (2018): Historical waterfront of Rio de Janeiro. In: International Planning History Society Proceedings 18 (1), S. 353–362.
Pinto, Pedro Jenale; Lopes dos Santos, Gustavo (2022): Olympic Waterfronts: An Evaluation of Wastes Opportunities and Lasting Legacies. In: Sustainability 14 (4), S. 1–35.
Pütz, Marco; Rehner, Johannes (2007): Macht in konflliktreichen Grossprojekten der Stadtentwicklung. In: disP - The Planning Review 43 (171), S. 36–49.