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Ostdeutsche Identitäten im wiedervereinten Deutschland - Deklassierungserfahrungen und ihre Auswirkungen in einer postmigrantischen Gesellschaft. Eine Seminararbeit von Alexander Rößner


1       Einleitung

Die Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 spiegelt einen wichtigen Moment in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wider. Seither gab es vielzählige gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Veränderungen, die bis heute bestehen bleiben. Trotz vereintem Deutschland wird vor allem im ostdeutschen Diskurs die Frage nach der eigenen Identität wiederholt aufgeworfen. Oft wird die Integration der DDR als ein abgeschlossener, erfolgreicher und harmonischer Vereinigungsprozess beschrieben, jedoch berichten die Erfahrungen vieler Ostdeutscher von einer anderen Realität. Der Übergang von einem sozialistischen System zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft brachte nicht nur wirtschaftliche und soziale Herausforderungen mit sich, sondern führte auch zu einer tiefen Deklassierung und sozialen Abwertung der ostdeutschen Bevölkerung. 

Viele Ostdeutsche fühlen sich bis heute als „Bürger zweiter Klasse“, deren Lebensleistungen und Erfahrungen nicht anerkannt wurden. Dieser Prozess der Deklassierung geht einher mit einer Form des Othering, bei dem Ostdeutsche als „die Anderen“ in der gesamtdeutschen Gesellschaft wahrgenommen werden. Diese soziale Abwertung hat weitreichende Konsequenzen für die Identitätsbildung in Ostdeutschland und beeinflusst sowohl das Selbstbild der Ostdeutschen als auch ihre Wahrnehmung durch andere.

In einer zunehmend postmigrantischen Gesellschaft, die durch kulturelle Pluralität und Diversität gekennzeichnet ist, treten diese Fragen der Identität, der sozialen Abwertung und des Othering noch deutlicher hervor. Darin resultiert die hohe Bedeutung der Thematik. Es stellt sich die Frage, wie diese Deklassierungserfahrungen der Ostdeutschen ihre Identitätsbildung beeinflussen und welche Rolle diese Prozesse in einer Gesellschaft spielen, die zunehmend vielfältiger und integrativer wird.

Diese Frage wird in der vorliegenden Hausarbeit aufgegriffen. Es wird untersucht, wie soziale Deklassierung zur Konstruktion ostdeutscher Identitäten in der postmigrantischen Gesellschaft beiträgt und welche Implikationen sich daraus ergeben. Die zentrale These lautet: Die Deklassierungserfahrungen und das Othering spielen eine maßgebliche Rolle bei der Formung ostdeutscher Identitäten.


 

2       Theorieteil

2.1       Die Entstehung der ostdeutschen Identität(en)

Die ostdeutsche Identität hat sich im Kontext der tiefgreifenden historischen Veränderungen entwickelt, die durch die Teilung Deutschlands und die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) im Jahr 1949 eingeleitet wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt, aus denen 1949 die DDR als sozialistischer Staat unter der Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) hervorging (vgl. Bleek 2009). In der DDR prägten eine zentral gelenkte Planwirtschaft und eine stark kontrollierte Gesellschaft den Alltag der Menschen, der durch staatliche Überwachung und Repressionen gekennzeichnet war. Gleichzeitig förderte die SED ein starkes Gemeinschaftsgefühl und sozialistische Ideale, während westliche Einflüsse weitgehend minimiert wurden (vgl. ebd.). Die friedliche Revolution von 1989 und die anschließende Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 führten zu radikalen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umbrüchen in Ostdeutschland. Schließung oder Privatisierung vieler staatlicher Betriebe, hohe Arbeitslosigkeit und Abwanderung sind Ergebnisse der historischen Wende (vgl. Mau 2019: 160ff., 175). Diese Transformation löste bei vielen Ostdeutschen ein Gefühl des Identitätsverlustes aus, welches durch die Herausforderungen bei der Integration in das gesamtdeutsche System noch verstärkt wurde (vgl. ebd. 164f.).

Im Rahmen der sozialpsychologischen Theorie von Henri Tajfel und John Turner aus dem Jahre 1979 wird im Folgenden die ostdeutsche Identität als eine Form der sozialen Identität verstanden. Diese beschreibt den Teil des Selbstkonzeptes, der aus der Mitgliedschaft in sozialen Gruppen resultiert (vgl. Schade 2000). Die Theorie betont, dass Menschen ihre soziale Umwelt durch Kategorisierungsprozesse strukturieren und bewerten, um sie überschaubarer zu machen (vgl. ebd.). Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe – in diesem Fall zur ostdeutschen Bevölkerung – beeinflusst nicht nur die Selbstwahrnehmung, sondern auch Emotionen und Verhaltensweisen. So können Erfolge oder Misserfolge, die die Gruppe als Ganzes betreffen, bei den Mitgliedern Stolz oder Niedergeschlagenheit auslösen (vgl. Abrams, Hogg 1988: 318f.). Die Deklassierungserfahrungen und der gesellschaftliche Wandel, denen viele Ostdeutsche nach der Wiedervereinigung ausgesetzt waren, haben somit bedeutend zur Herausbildung einer spezifischen ostdeutschen Identität beigetragen.

Die ostdeutsche Identität, wie sie heute verstanden wird, wird als Konstruktion beschrieben, die sich erst nach der Wende 1989/90 herausgebildet hat (vgl. Ganzenmüller 2020). Während der DDR-Zeit verstanden sich die Menschen weitgehend als Deutsche, ohne eine spezifische ostdeutsche Identität zu formulieren. Erst die massiven Veränderungen nach der Wiedervereinigung, geprägt durch die bereits genannten wirtschaftlichen Umbrüche, Arbeitsplatzverluste und das Gefühl, als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden, führten zu einer neuen, gemeinsamen Identität unter den ehemaligen DDR-Bürgern (vgl. ebd.). Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, betont, dass diese Identität stark durch die negativen Erfahrungen nach der Wiedervereinigung geprägt wurde, als viele Ostdeutsche mit massiver Deklassierung und mangelnder Wertschätzung konfrontiert wurden (vgl. B.Z. 2019). Hierbei gilt es zu betonen, dass die ostdeutsche Identität kein „starres und homogenes Gebilde ist“ (Kubiak 2020: 189), sondern sich innerhalb der verschiedenen Generation stetig gewandelt hat und dies auch in Zukunft weiterhin wird. Somit kann nicht von einer „kollektiven“ Identität gesprochen werden (vgl. ebd.: 194).

Die Transformationsprozesse der 1990er Jahre, insbesondere die schnelle Integration der ostdeutschen Bevölkerung in das westdeutsche System, wurden von vielen Ostdeutschen als eine Art „Entwurzelung“ erlebt. Die Angleichung an westliche Standards und der Verlust eigener Traditionen und Werte verstärkten das Gefühl der Benachteiligung (vgl. Mau 2019: 180f.). Gleichzeitig entstand in dieser Zeit ein starkes Bewusstsein für die eigene kulturelle Vergangenheit und eine neue Form der Verbundenheit mit dem Osten (vgl. Kollmorgen 2022). Empirischen Daten zeigen, dass mindestens zwei Drittel der Ostdeutschen, insbesondere ältere Menschen und Arbeitslose, eine starke Verbundenheit mit ihrer Region empfinden (Tabelle 1). Dieses Gefühl wird jedoch bei jüngeren und höher gebildeten Menschen zunehmend schwächer. Gleichzeitig steigt die Verbundenheit der Ostdeutschen mit Deutschland, von etwa einem Drittel zu Beginn der 1990er Jahr auf ungefähr zwei Drittel im Jahr 2020 (vgl. Kollmorgen 2022).

 

Tabelle 1: Verbundenheit mit Ostdeutschen/Ostdeutschland (1992-2020); Quelle: Eigene Darstellung, verändert nach Kollmorgen 2022

Jahr

1992

1997

2000

2003

2006

2009

2011

2014

2020

Anzahl in %

69

80

77

73

67

70

69

66

77

 

Ein weiteres Phänomen, das eng mit der ostdeutschen Identität verbunden ist, ist die sogenannte „Ostalgie“. Diese nostalgische Erinnerung an das Leben in der DDR, die oft mit einer Wertschätzung für die positiven Aspekte der DDR-Kultur und den DDR-Traditionen einhergeht, ist in den letzten Jahrzehnten zu einem wichtigen Teil der ostdeutschen Identität geworden (vgl. Ahbe 2005: 7). Die Ostalgie wird oft als Reaktion auf die soziale Deklassierung und das Othering verstanden, die viele Ostdeutsche nach der Wiedervereinigung erfahren haben (vgl. Kollmorgen 2022). In diesem Zusammenhang ist auch das Werk von Jana Hensel, „Zonenkinder“, bedeutend. Hensel (2002) beschreibt, wie sie als Jugendliche die Umbrüche nach der Wende erlebte und sich in einem Schwebezustand zwischen Ost und West wiederfand. Ihr Buch gibt der ersten gesamtdeutschen Generation einen Eindruck davon, wie tiefgreifend die Erfahrungen der Wendezeit die Identitätsbildung geprägt haben. Die sogenannte „Dritte Generation Ost“, zu welcher Jana Hensel zählt, verleiht den Ostdeutschen durch ihre Erzählungen eine Stimme und erreicht, dass in der Öffentlichkeit sowie in der Forschung den ostdeutschen Identitäten mehr Aufmerksamkeit verliehen wird (vgl. Kubiak 2020: 194).

 

2.2       Die postmigrantische Gesellschaft

Eine postmigrantische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der Migration nicht nur als vorübergehendes Phänomen betrachtet wird, sondern als ein Prozess, der tiefgreifende und langfristige Veränderungen in der sozialen Struktur und Identität bewirkt hat (vgl. Foroutan 2015). Diese Gesellschaft zeichnet sich durch eine hohe Diversität aus, in der ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt zum Alltag gehören. Menschen in einer postmigrantischen Gesellschaft haben oft mehrfache Identitäten und Zugehörigkeiten, was zu neuen Formen des Zusammenlebens und der Interaktion führt (vgl. Foroutan 2016: 239f.). Diese Dynamik bringt jedoch auch ständige Aushandlungsprozesse von Inklusion und Exklusion mit sich, in denen Fragen der Teilhabe und Anerkennung im Zentrum stehen (vgl. ebd.: 240f.). Durch die Migration und ihre Folgen verändern sich auch Machtverhältnisse und soziale Hierarchien, was zu hybriden Identitäten und neuen kulturellen Ausdrucksformen führt (vgl. ebd. 241f.).

Wird dieses Konzept auf die ostdeutsche Debatte übertragen, zeigt sich, dass die ostdeutschen Erfahrungen nach der Wende ebenfalls als postmigrantisch verstanden werden können. Naika Foroutans Zitat „Migranten haben ihr Land verlassen, Ostdeutsche wurden von ihrem Land verlassen“ (Taz 2018) verdeutlicht, dass die Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung eine ähnliche Entwurzelung und Anpassung durchmachen mussten wie Migranten. Die Wiedervereinigung zwang die Ostdeutschen, ihre kulturellen und sozialen Identitäten in einem neuen, gesamtdeutschen Kontext neu zu verhandeln, was oft als Verlust ihrer eigenen Kultur und Identität empfunden wurde (vgl. Mau 2019: 210f.). Diese Parallelen zur Migrationserfahrung zeigen, dass postmigrantische Prozesse nicht nur durch räumlich-geographische Migration ausgelöst werden, sondern auch durch historische und politische Umbrüche, die bestehende Gesellschaften, unter anderem auf sozialer Ebene, fundamental verändern (vgl. Kubiak 2021).

In diesem Kontext ist es wichtig, die Analogien zwischen dem Eintritt der Ostdeutschen in die Bundesrepublik und den Erfahrungen von Migranten beim Übergang von einer Herkunfts- in eine Zielgesellschaft zu betrachten. Ostdeutsche sahen sich nach der Wende mit der Abwertung ihrer Herkunftskultur und „stereotypischen Klischees“ (Mau 2019: 216f.) konfrontiert, ähnlich wie viele Migranten. Die Diskussion darüber, ob Ostdeutsche als „Minderheit im eigenen Land“ (ebd.: 217) oder als „symbolische Ausländer“ (ebd.) betrachtet werden können, spiegelt wider, dass sie trotz äußerlicher Nicht-Erkennbarkeit und fehlendem Rassismus oft strukturelle und symbolische Herabwertungen erfahren (vgl. ebd.). Diese Prozesse der Migrantisierung erweisen, dass postmigrantische Erfahrungen in Deutschland nicht nur auf Einwanderung beruhen, sondern auch auf den historischen und kulturellen Brüchen innerhalb der eigenen Bevölkerung.

 

3       Diskussion

Im Theorieteil dieser Arbeit wurde dargelegt, dass die Entstehung der ostdeutschen Identität unter anderem mit Deklassierungserfahrungen nach der Wiedervereinigung und das damit einhergehende Othering korreliert. Die Leitfrage dieser Diskussion lautet: Wie beeinflussen die Deklassierungserfahrungen der Ostdeutschen ihre Identitätsbildung und welche Rolle spielen diese Prozesse in einer Gesellschaft, die zunehmend vielfältiger und integrativer wird? Ausgehend von der These, dass diese Deklassierungserfahrungen und das Othering maßgeblich zur Konstruktion der ostdeutschen Identität beigetragen haben, wird im Folgenden eine detaillierte Analyse in drei Hauptpunkten durchgeführt.

 

3.1       Deklassierung und Othering von Ostdeutschen in der Gesellschaft

In der gesamtdeutschen Gesellschaft wirkt sich die soziale Abwertung von Ostdeutschen spürbar auf ihre Identitätsbildung aus. Diese Abwertung zeigt sich vor allem in der Selbstwahrnehmung der Ostdeutschen als „Bürger zweiter Klasse“ (Mau 2019: 208), die bis heute in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen spürbar ist. Ostdeutsche erfahren im Alltag häufig eine Form des Othering. Sie werden in öffentlichen Diskursen und Medien oft als rückständig, weniger leistungsfähig oder als „Jammer-Ossis“ dargestellt, was ihre soziale Position schwächt und ihre Zugehörigkeit zur gesamtdeutschen Gesellschaft infrage stellt (vgl. Kollmorgen 2022). Diese Stereotypen tragen dazu bei, dass Ostdeutsche sich oft ausgegrenzt und nicht vollwertig anerkannt fühlen (vgl. Kubiak 2020: 296f.).

Diese Form der Entwurzelung hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Selbstbild der Ostdeutschen. Durch das ständige Gefühl, als „anders“ und „weniger wert“ betrachtet zu werden, entwickeln viele Ostdeutsche ein starkes Bewusstsein für ihre marginalisierte Position (vgl. Rippl et al. 2018). Dieses Bewusstsein führt häufig zu einem gesteigerten Wir-Gefühl und einer verstärkten Identifikation mit der eigenen ostdeutschen Herkunft, um den erlebten Ausschluss zu kompensieren (vgl. Kubiak 2020: 195f.). Gleichzeitig kann diese verstärkte Identifikation mit der eigenen Gruppe die Kluft zwischen Ost und West weiter vergrößern, da sie die bestehenden Vorurteile und Stereotype auf beiden Seiten verfestigt (vgl. Spissinger et al. 2024: 338).

Das Othering der Ostdeutschen manifestiert sich nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch strukturell. Ostdeutsche werden oft als das „Andere“ zur westdeutschen Norm dargestellt, was eine Form der symbolischen Subalternisierung darstellt (vgl. Kubiak 2017: 30). In Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und Medien sind Ostdeutsche stark unterrepräsentiert, was das Gefühl der Benachteiligung und der sozialen Unsichtbarkeit verstärkt (vgl. Oschmann 2023: 93f.). Diese strukturelle Exklusion trägt dazu bei, dass Ostdeutsche oft das Gefühl haben, ihre Lebensleistung werde nicht anerkannt und sie hätten in der gesamtdeutschen Gesellschaft keinen gleichberechtigten Platz (vgl. Rippl et al. 2018). Diese Erfahrungen fördern das Narrativ, dass die ostdeutsche Identität eine Reaktion auf kontinuierliche soziale Abwertung und strukturelle Benachteiligung darstellt.

Insgesamt verstärkt die soziokulturelle Abwertung der Ostdeutschen durch das Othering nicht nur das Gefühl der Entfremdung, sondern formt auch eine „kollektive“ Identität, die stark von diesen negativen Erfahrungen geprägt ist (vgl. ebd.). Diese Identität ist die Reaktion auf die gesellschaftlichen Bedingungen, die Ostdeutsche tagtäglich erleben. Der anhaltende Prozess des Othering sorgt dafür, dass sich die Kluft zwischen Ost und West nicht schließt, sondern in neuen Formen fortbesteht und die gesamtdeutsche Gesellschaft weiterhin spaltet.

 

3.2       Konstruktion ostdeutscher Identitäten

Die Konstruktion ostdeutscher Identitäten ist eng mit den Erfahrungen der Deklassierung sowie des Otherings verbunden und wird maßgeblich durch die Ost-West-Differenz geprägt. Diese Differenz stellt nicht nur eine geographische Trennung dar, sondern ist vor allem eine kulturelle und soziale Grenze, die durch die Wiedervereinigung Deutschlands und die nachfolgende Deklassierungserfahrungen der Ostdeutschen verstärkt wurde (vgl. Kubiak 2020: 195f.). Wie bereits betont, formieren sich ostdeutsche Identitäten oft als direkte Reaktion auf die Abwertung durch die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft (vgl. Spissinger et al. 2024: 338). Dabei wird die ostdeutsche Identität häufig als eine Abgrenzung zur westdeutschen Norm definiert, was zu einer Dichotomie zwischen „Ost“ und „West“ führt, die bis heute in der gesamtdeutschen Gesellschaft spürbar ist (vgl. Rippl et al. 2018).

Dirk Oschmann betont in seinem Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ (2023), dass die ostdeutsche Identität maßgeblich durch westdeutsche Perspektiven und Diskurse geformt wurde. Der Westen betrachtet den Osten als eine Abweichung von der eigenen Norm, was zur Konstruktion einer „kollektiven“ ostdeutschen Identität führte, die sich von der westdeutschen unterscheidet (vgl. Oschmann 2023: 70f.). Diese Identität ist nicht das Ergebnis einer freiwilligen Selbstdefinition, sondern entsteht unter dem Druck von außen, sich gegen die westliche Dominanz und die damit einhergehenden Abwertungen abzugrenzen (vgl. ebd.: 93). Die Konstruktion der ostdeutschen Identität ist somit ein komplexer Prozess, der durch die Wechselwirkung von Fremdzuschreibungen und Selbstvergewisserung geprägt ist (vgl. Ganzenmüller 2020).

Die Frage, ob es eine einheitliche ostdeutsche Identität gibt, bleibt umstritten. Während einige Ostdeutsche sich stark mit dieser Identität identifizieren, lehnen andere sie ab oder empfinden sie als belastend (vgl. Rippl et al. 2018). Die Identitätsbildung ist daher ein dynamischer Prozess, der stark von den individuellen Erfahrungen und dem sozialen Kontext abhängt (vgl. Kubiak 2020: 196f.). In diesem Sinne lässt sich die ostdeutsche Identität als eine „Erinnerungsgemeinschaft“ verstehen, die weniger auf einer einheitlichen DDR-Vergangenheit, sondern auf gemeinsamen Transformationserfahrungen basiert (vgl. Mau 2019: 212).

 

3.3       Einfluss der postmigrantischen Gesellschaft auf das Selbstbild von Ostdeutschen

In der postmigrantischen Gesellschaft, in der vielfältige Identitäten und Zugehörigkeiten immer mehr an Bedeutung gewinnen, verändert sich auch das Selbst- und Fremdbild der Ostdeutschen. Ostdeutsche Identitäten werden nicht nur von außen durch westdeutsche Perspektiven konstruiert, sondern auch durch die Ostdeutschen selbst. Diese Selbstkonstruktion, wie in Kapitel 2.1 beschrieben, wird oft durch die nostalgische Verklärung der DDR-Zeit geprägt. Dabei besteht eine enge Verbindung zwischen der Ostalgie und dem Bestreben, eine positive kollektive Identität zu bewahren, die den sozialen und kulturellen Verlusten nach der Wiedervereinigung entgegenwirken soll (vgl. Ahbe 2005: 37f.).

Ostalgie kann jedoch insofern problematisch sein, dass sie die tatsächlichen Herausforderungen und negativen Aspekte der DDR-Zeit ausblendet und eine verzerrte und auch romantisierte Sicht auf die Vergangenheit fördert. Diese Verklärung beeinflusst die intergenerationale Entwicklung der ostdeutschen Identität, indem sie eine idealisierte Erinnerung an die DDR-Zeit vermittelt, die besonders von älteren Generationen gepflegt wird (vgl. Kubiak 2020: 196f.). Jüngere Generationen, die die DDR selbst nicht oder nur als Kinder erlebt haben, übernehmen diese nostalgischen Erzählungen oft unkritisch, was zu einer fortgesetzten Identitätsbildung führt, die auf einem selektiven und unvollständigen Geschichtsbild basiert (vgl. ebd.).

Die intergenerationale Weitergabe dieser idealisierten Vergangenheit verstärkt die Identifikation mit einer ostdeutschen Identität, die sich als Gegenentwurf zur gesamtdeutschen Gesellschaft versteht. Dies führt zu einer Selbstkonstruktion, die nicht nur auf den Abwertungen und dem Othering durch den Westen basiert, sondern auch auf einer selbstbewussten Abgrenzung und Betonung der eigenen kulturellen Eigenständigkeit (vgl. Kollmorgen 2022). Diese Selbstkonstruktion erschwert jedoch die Integration in die postmigrantische Gesellschaft, da sie die Anpassung an neue gesellschaftliche Realitäten und die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte behindert (vgl. Oschmann 2023: 70f.). Dadurch wird eine vollständige Entfaltung der Ostdeutschen sowie die gleichberechtigte Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen verhindert.

Zusammengefasst zeigt sich, dass die postmigrantische Gesellschaft neue Herausforderungen für die ostdeutsche Identitätsbildung mit sich bringt. Während die Ostalgie eine wichtige Rolle bei der Bewahrung der kulturellen Erinnerung spielt, kann sie auch dazu führen, dass sich Ostdeutsche in einer statischen und rückschrittlichen Identität verfangen. Dies behindert nicht nur die Integration in die gesamtdeutsche Gesellschaft, sondern auch die Entwicklung einer zukunftsfähigen, inklusiven ostdeutschen Identität, die in einer postmigrantischen Gesellschaft bestehen kann (vgl. Kubiak 2021). Das Konstruieren der ostdeutschen Identität durch die Ostdeutschen selbst trägt somit ebenfalls zur Spaltung und zur Fortsetzung der Ost-West-Differenz bei, ebenso wie die Abwertungen durch die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft.

 

4       Fazit

Die vorliegende Arbeit hat gezeigt, dass die Deklassierungserfahrungen der Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung und das damit verbundene Othering zentrale Faktoren bei der Formung ostdeutscher Identitäten sind. Diese Identitäten entstehen sowohl durch die Abgrenzung von westdeutschen Normen als auch durch die Selbstvergewisserung innerhalb der ostdeutschen Gemeinschaft. Die Analyse hat verdeutlicht, dass diese Prozesse nicht nur das Selbstbild der Ostdeutschen prägen, sondern auch ihre Stellung in der gesamtdeutschen Gesellschaft beeinflussen. In einer zunehmend postmigrantischen Gesellschaft stellen sich diese Identitätsfragen umso dringlicher, da Ostdeutsche weiterhin mit sozialen Abwertungen und der Herausforderung konfrontiert sind, ihre Identität in einem diversifizierten gesellschaftlichen Kontext neu zu verhandeln.

Die zentrale These der Arbeit, dass Deklassierungserfahrungen und Othering maßgeblich zur Konstruktion ostdeutscher Identitäten beitragen, wurde durch die Untersuchung bestätigt. Diese Prozesse spielen eine entscheidende Rolle dabei, wie Ostdeutsche sich selbst wahrnehmen und wie sie von der restlichen Gesellschaft wahrgenommen werden. Eine mögliche Einschränkung der Arbeit besteht jedoch darin, dass individuelle Aspekte der Identitätsbildung und der differenzierten Erfahrungen innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung nicht im Detail betrachtet wurden. Die komplexe Vielfalt der ostdeutschen Identitäten, die sich je nach Generation, sozialem Hintergrund und individuellen Erfahrungen unterschiedlich ausprägen, könnte in weiteren Studien vertieft untersucht werden.

Für die Zukunft stellt sich die Frage, wie sich ostdeutsche Identitäten weiterentwickeln werden. Es ist wahrscheinlich, dass diese Identitäten weiterhin als Ausdruck regionaler und historischer Besonderheiten bestehen bleiben, aber an Bedeutung verlieren könnten, wenn die DDR-geprägten Generationen allmählich aus dem aktiven gesellschaftlichen Leben zurücktreten. Gleichzeitig könnte die ostdeutsche Identität jedoch auch als Symbol für marginalisierte Regionen fortbestehen und in politischen Debatten über Identität und Anerkennung eine Rolle spielen. In einer zunehmend vielfältigen Gesellschaft wird es entscheidend sein, wie die unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven der Ostdeutschen in den gesamtdeutschen Diskurs integriert werden, um eine weitere Spaltung zu vermeiden und eine inklusive nationale Identität zu fördern.

Die fortlaufende Reflexion und Anerkennung dieser Identitäten sind notwendig, um zu verhindern, dass sie von reaktionären Kräften instrumentalisiert werden, was ein Risiko für die demokratische Ordnung Deutschlands darstellen könnte. Zukünftige Forschung sollte sich daher nicht nur mit der Vergangenheit und Gegenwart ostdeutscher Identitäten beschäftigen, sondern auch mit ihren möglichen Entwicklungen in einer sich wandelnden Gesellschaft.


 

Literaturverzeichnis

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Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Verbundenheit mit Ostdeutschen/Ostdeutschland (1992-2020); Quelle: Eigene Darstellung, verändert nach Kollmorgen 2022 ……………………….............. 3

 


Diese Seminararbeit wurde von Alexander Rößner im Rahmen von GEOG 226 "Globalisierung" verfasst und hat zum Gegenstand die Auseinandersetzung mit der Konstruktion ostdeutscher Identität im Kontext einer postmigrantischen Gesellschaft.

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