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Transformation in Ostdeutschland. Eine Hausarbeit von Jolina Störmer


1     Einleitung

Baustellenzaun, dahinter Kran mit Greifarm, Abriss rotes Haus Eingang Fußgängerzone "Neues Saaltor für Jena"
Foto: Dominique Kauer
Nach 40 Jahren ‚Deutsche Demokratische Republik‘ änderte sich das Leben der Menschen in Ostdeutschland im November 1989 quasi über Nacht. Aus der vermeintlichen Fehlkommunikation zwischen dem Gremium der DDR und dem Politbüromitglied Günter Schabowski kam es zu Massenansammlungen von Menschen an den Grenzübergängen der Berliner Mauer. Drei Worte veranlassten die Behörden dazu, die Übergänge gezwungenermaßen zu öffnen und die DDR hinter sich zu lassen. Ein Jahr später hieß es dann nicht mehr ‚Ost‘ und ‚West‘, sondern nur noch ‚Bundesrepublik Deutschland‘. Die DDR hatte sich der BRD angeschlossen. Dabei ist dieser Prozess keineswegs unverhofft gewesen. Im Gegenteil: bereits wenige Jahre nach der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 zeigten sich erste Defizite in der Wirtschaft des Staatssozialismus. Die mangelnde Wirtschaft, fragliche politische Entscheidungen und zunehmende Unzufriedenheit innerhalb der Gesellschaft stellten das Fortbestehen der DDR auf die Probe. Später führten die durch Gorbatschow eingeleiteten Reformen der politischen Ordnung in der UdSSR nicht zu dem erwünschten Ergebnis, sondern vielmehr zur Schwächung der politischen Stabilität in den Ostblockstaaten. Letztendlich resultierten daraus umfangreiche Prozesse – sowohl in Ostmitteleuropa, als auch in Osteuropa und Asien – die sich als postsozialistische Transformation zusammenfassen lassen. 

Vor allem in Deutschland vollzogen sich die Prozesse in einer derartigen Geschwindigkeit, dass sich der Fall ‚Ostdeutschland‘ in gewisser Weise von anderen Staaten unterscheidet. Um also der Frage nachzugehen, was Transformation konkret in Bezug auf Ostdeutschland bedeutet, soll die Niedergangsperiode der DDR mit dem anschließenden Übergang in den Kapitalismus auf wirtschaftlicher Ebene und in die Demokratie auf politischer Ebene in dem ersten Kapitel „Niedergang und Transition“ angerissen werden. Darauf aufbauend werden die Charakteristika der post-sozialistischen Transformation in Ostmitteleuropa nach János Kornai im zweiten Kapitel beschrieben. Zuletzt folgt die Bezugnahme zum konkreten Fall ‚Ostdeutschland‘ im dritten Kapitel.


2     Niedergang und Transition

Im Jahr 2019 feierte Deutschland das dreißigjährige Jubiläum der Friedlichen Revolution in der DDR mit der anschließenden Wiedervereinigung von ‚Ost‘ und ‚West‘. Am 09. November 1989 fiel die Berliner Mauer und markierte somit die „politische Stunde null, die ein Davor und ein Danach trennte“ (Mau 2019: 11). ‚Davor‘ zeichnete sich der Untergang der DDR bereits deutlich ab, während das ‚Danach‘ für viele Bürger:innen der DDR unkalkulierbar schien.  

Zusammengefasst waren die Missstände und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung der DDR ‚davor‘ auf den politischen und vor allem den ökonomischen Zustand zurückzuführen, der eine wesentliche Ursache für den Zusammenbruch der Republik darstellte (Schroeder & Buhr 2021: 83). Dies beinhaltete unter anderem Funktionsdefizite, wie etwa die Unterbrechung von Produktionswegen auf Grund von Lieferengpässen oder fehlender finanzieller Unterstützung sowie Doppelbelastungen und die mangelnde Versorgung mit Produktionsgütern (ebd.). Die Produktivität der Planwirtschaft lag kurz vor dem Ende der DDR bei einem Drittel des Westniveaus und der reale Einkommensrückstand betrug etwa fünfzig Prozent, so Mau (2019: 114). Unter der Betrachtung der politischen Lage waren die ökonomischen Strukturbrüche, verbunden mit der zunehmenden Deindustrialisierung und der daraus resultierenden Massenarbeitslosigkeit in der DDR, nur ein Teil des „Transformationsschock[s]“ (Schroeder & Buhr 2021: 81).

Die durch Gorbatschow eingeleiteten Reformen der politischen Ordnung in der UdSSR sollten „den Raum für die Entfaltung einer politischen Öffentlichkeit“ (Schroeder 2004: o.S.) schaffen. Doch stattdessen stellte die Öffnung der Gesellschaft die politische Stabilität der Ostblockstaaten in Frage, woraufhin die Sowjetunion ihre Rolle als „Schutzmacht“ (Mau 2019: 117) überdenken und neu definieren musste. Diese Umwälzungen der Sowjetunion erfassten das gesamte Mitteleuropa und somit auch die Deutsche Demokratische Republik. Die daraus resultierenden Oppositionsbewegungen nutzten die sich bietende Möglichkeit, Menschenrechte sowie demokratische und marktwirtschaftliche Reformen einzufordern (Schroeder & Buhr 2021: 81). Diese lehnte das SED-Regime der DDR jedoch gänzlich ab, woraufhin die Unzufriedenheit im Land weiterhin stark zunahm.

Dieser Zusammenhang führte in den Ostblockstaaten und vor allem in der DDR zur Manifestation einer immer größer werdenden Unzufriedenheit „mit der Performanz des Systems und damit auch indirekt [in] die politische Legitimationskrise“ (Schroeder & Buhr 2021: 83). Hinzu kam der Vorwurf aus der Bevölkerung, dass die Kommunalwahlen 1989 in der DDR offensichtlich gefälscht gewesen seien (ebd.: 81). Mau (2019: 117) ergänzt hierzu, dass die Kritiken vorrangig oberflächliche Aspekte des Systems ansprachen - zugleich „rüttelten [diese] aber […] an seinem Fundament“. Bevor im Herbst 1989 die Protestbewegungen begannen, die als „spontane Revolution“ (ebd.) beschrieben werden, kam es bereits im Frühjahr 1989 zu ersten friedlichen Demonstrationen in Leipzig. Diese fanden jeden Montag im Anschluss an die Friedensgebete in der Nikolaikirche statt (Schroeder & Buhr 2021: 81). Da das Regime zurückhaltender reagierte, wurden die persönlichen Risiken ebenfalls immer niedriger. Dies sorgte letztendlich dafür, dass der Widerstand nicht nur im Familien- und Bekanntenkreis an Bedeutung gewann, sondern zunehmend auch im Befehlsregime. Laut Mau (2019: 118) verwandelte sich „eine steingraue Manövriermasse in handlungsfähige Subjekte“, sodass nun der Dialog anstelle des Befehls im Vordergrund stand.

In einer langen Periode des Niedergangs des Realsozialismus kam es nach Kollmorgen (2005: 22) zur Unterhöhlung der institutionellen Grundlagen des Systems sowie zum Verbrauch seiner Legitimationsressourcen. Folglich strebten weite Teile der Bevölkerung und der Gegen-Eliten eine dem ‚Westen‘ angelehnte moderne Institutionenordnung an (ebd.). Diese Phase beschreiben Schroeder und Buhr (2021: 87) als „Transition“, die einen Übergang von dem bisher bestehenden System in ein Neues kennzeichnet. Dieser Übergang ist durch spontane und teilweise unkoordinierte Handlungen geprägt, die nicht selten in Konflikten zwischen den Akteuren endeten. Auf Deutschland bezogen bedeutet dies, dass zunächst die unmittelbare politische Machtübernahme durch neue Eliten stattfinden musste (Kollmorgen 2005: 22). Diese Initiierungsphase führte zunächst zur Gründung der ‚Runden Tische‘ Ende 1989, die „einen weiter friedlichen Übergang zu einem (neuen) reformierten System ausarbeiten sollten“ (Schroeder & Buhr 2021: 82). Die große Frage die hierbei im Raum stand: Soll die Einheit Deutschland angestrebt werden, oder soll die Zweistaatlichkeit beibehalten werden?

Am 18. März 1990 fand die erste freie Wahl zur Volkskammer statt, die die Zukunft von Deutschland verändern sollte. Hierbei konnten die Bürger:innen der DDR über die nun folgende politische Ausrichtung ihres Landes abstimmen, woraufhin das Wahlbündnis ‚Allianz für Deutschland‘ die Mehrheit gewann (ebd.). Folglich wurde der Einigungsvertrag zwischen der BRD und der DDR am 31. August 1990 unterzeichnet. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 03. Oktober 1990 nach Artikel 23 GG war die Phase des Institutionentransfers abgeschlossen (Schroeder & Buhr 2021: 88). Dieser Prozess beendete die Transitionsphase und leitete die Phase der Institutionalisierung, die Transformationsphase, ein (ebd.).


3     Postsozialistische Transformation 

Das ‚Danach‘ wurde in den Ostblockstaaten nicht nur als sich heranbahnende Transformationswelle verstanden. Vielmehr wurde es als „Epochenumbruch begriffen, der mit dem Ende des europäischen Kommunismus auch das Zeitalter der Systemkonkurrenz von demokratischem Wohlfahrtskapitalismus und Staats-sozialismus abschließen würde“ (Kollmorgen 2015: 421). Konkret bedeutet dies, dass hier ein Übergang von ehemals kommunistischen oder sozialistischen Systemen hin zu marktwirtschaftlich-liberalen Demokratien entsteht.  

Insbesondere in Ostmitteleuropa können nach Kornai (2008: 9f) sechs Eigenschaften der postsozialistischen Transformation beschrieben werden. Zum einen verlaufen die Veränderungen vorrangig in Richtung einer ‚westlichen Zivilisation‘. Dazu zählt zweitens, dass sich Gesellschaften wirtschaftlich kapitalistisch und politisch demokratisch orientieren. Hier ist zu betonen, dass die (freie) Marktwirtschaft „generell eines der wichtigsten Ziele der postsozialistischen Transformation [ist]“ (Kollmorgen et al. 2015: 21). Die demokratischen Ziele seien diesbezüglich allerdings weniger eindeutig (ebd.). Weiterhin verläuft die Transformation nach Kornai (2008: 9f) parallel in allen Gesellschaftsbereichen. Hierunter versteht er die Wirtschaft, die politische und rechtliche Struktur sowie die sozialen Schichtungen. Viertens verläuft die Transformation größtenteils gewaltfrei und findet fünftens unter friedlichen Umständen statt. Das bedeutet, dass dem Transformationsprozess kein Krieg vorausgeht und er auch nicht von außen aufgezwungen wurde. Zuletzt erfolgte die Transformation unter der Betrachtung, dass der Prozess bereits abgeschlossen ist, innerhalb eines Zeitrahmens von 10 bis 15 Jahren.

So wie jede Theorie ist auch diese kritisch zu betrachten. Denn während sich beispielsweise Ungarn nach dem ‚Westen‘ orientierte, wendeten sich Albanien oder auch Kasachstan weitgehend von den demokratischen Zielen der Transformation ab (Kollmorgen 2005: 20). Die Unterscheidung zwischen den Prozessen in Mittelosteuropa, Osteuropa und Asien ist aus diesem Grund zwingend zu beachten. Folglich ist es fraglich, inwieweit die postsozialistischen Transformationsprozesse und Resultate in einem Typen zusammengefasst werden können. Gerade die Transformationsprozesse in Osteuropa wurden durch die „dominant autoritären, teils sogar feudalen Strukturen des Vorsozialismus“ (Kollmorgen 2005: 35) erschwert und beinahe unmöglich gemacht.

Weiterhin wurden vor allem im ‚Osten‘ vielfach umstrittene modernisierungs-theoretische Ansätze herangezogen und diese mit den Prozessen der Transformation gleichgesetzt. Mau (2019: 137f) gibt hierzu an, dass sich die Transformation in den postsozialistischen Gesellschaften laut der Theorie in Richtung des westlichen Modells entwickle. Dieser Prozess sollte weitgehend unter der Prämisse der „Rückkehr nach Europa“ (Kollmorgen 2005: 21) verlaufen. Vor diesem Hintergrund wurden dem ‚Osten‘ Modernisierungsdefizite vorgeworfen, die sich nicht nur auf die Politik oder Institutionen bezogen, sondern ebenfalls auf die Kompetenzen, Mentalitäten und persönlichen Einstellungen der Bürger:innen (Mau 2019: 138). Der ‚Osten‘ wurde zunehmend als Nachzügler verstanden, während der ‚Westen‘ als Vorreiter und als eine normative und überlegene Gesellschaft dargestellt wurde (ebd.).

Da die postsozialistische Transformation mehrfach in den Kontext von westlicher Modernisierung gestellt wird, unterstreicht Kollmorgen (2005: 21), dass die „autochthonen Handlungsorientierungen wichtiger sozialer Gruppen, [die] expliziten westorientierten Modernisierungsstrategien der einheimischen Eliten (und internationaler Akteure), […] [sowie die] Einbindung in westlich dominierte ‚Weltsysteme‘“ gerechtfertigt und notwendig seien. Trotzdem betont er explizit, dass sich diese Prozesse und Kontextualisierung „sozialwissenschaftlich [nicht] hinreichend als Modernisierungen begreifen lassen“ (ebd.). Zudem fügt Mau (2019: 142) an, dass vor allem die modernisierungstheoretische Leseart der Transformation nicht unwidersprochen bleiben solle. Hierbei spricht er unter anderem den Ausschluss jeglicher individuellen Entwicklung und Neuerfindung an. Aus diesem Grund können postsozialistische Gesellschaftstransformationen nicht nur als „westorientierte Modernisierungen“ (Kollmorgen 2005: 39) verstanden werden.

Es ist allerdings auch zu einfach gedacht, diese Transformationsprozesse einzig als Transitionen, also als einen Übergang von einem bereits bestehenden in ein neues gesellschaftliches System, zu beschreiben (ebd.). Vielmehr ist eine Transformationsstruktur erkennbar, bei der eine Periode des Niedergangs, in diesem Fall der Niedergang des Realsozialismus, in der Periode der Transition ab 1988/89 mündet. In diesem Zeitraum wurden zwar die westlichen zentralstaatlich-demokratischen und politisch-ökonomischen Ziele übernommen und etabliert, den Abschluss der Transformation bedeutet dieser Prozess allerdings nicht (Kollmorgen 2005: 34). Im Gegenteil: an die Transition anschließend folgt die Strukturierungsperiode, bei der sich die zwangsweise aufkommenden Transformationsprobleme entfalten und der Umbau des Systems gerechtfertigt werden muss (vgl. ebd.).

Ähnlich verhält es sich in Ostdeutschland, das heißt der ehemaligen DDR. Die BRD hatte nach dem zweiten Weltkrieg „einen Weg in die Demokratie gefunden, so dass anzunehmen war, dass dies mit der Inkorporation der DDR […] auf ähnliche Weise gelingen würde“ (Mau 2019: 143).

 

4     Transformation in Ostdeutschland

Mit dem Beitritt der neuen Bundesländer zur Bundesrepublik Deutschland am 03. Oktober 1990 gemäß Artikel 23 GG hat sich die „Deutsche Demokratische Republik selbst ausradiert und so einen Weg in die Vergangenheit versperrt“ (Mau 2019: 133). Mit dieser Entscheidung war der Transfer von Föderalismus und Kapitalismus verfassungsrechtlich geregelt (Holtmann 2009: o.S.). Die Entwicklungen, die Deutschland und vor allem die DDR ab den 1980er Jahren geprägt haben, gehören zum gleichen transformatorischen Subtypen wie den der ostmitteleuropäischen Fallgruppe, so wie es bereits in Kapitel 2 beschrieben wurde (Enders et al. 2021: 25).

Dennoch beschreiben Enders et al. (2021: 25) drei Anomalien des ostdeutschen Falls gegenüber der restlichen ostmitteleuropäischen Umbruchszone. Zum einen fand der postkommunistische Umbruch in der DDR bereits ab Frühjahr 1990 statt: und zwar unter der Prämisse der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Zum anderen galt die ‚Rückkehr nach Europa‘ bereits am 03. Oktober 1990 als beendet (ebd.: 26), wohingegen der Prozess in den anderen Staaten meist länger als 10 Jahre andauerte (Kornai 2008: 10). Begonnen hatte der Prozess in Ostdeutschland mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion am 01. Juli 1990. In diesem Fall vollzog sich der Vereinigungsprozess mitsamt des Institutionen- und Finanztransfers von West nach Ost zuletzt in einer Geschwindigkeit, die sich „drastisch von allen anderen postsozialistischen Fällen unterscheidet“ (Enders et al. 2021: 26).

Insbesondere die Geschwindigkeit und der Institutionentransfer, also die gesamte Übernahme der rechtlichen und politischen Basisinstitutionen nach dem Vorbild der alten Bundesländer, schloss das Einbringen eigener Interessen gänzlich aus (Kollmorgen 2005: 61). Mau (2019: 134) beschreibt dies als „Verlust der Option, gemeinsam einen gesellschaftlichen Entwicklungspfad auszuhandeln“. Dieser „Verlust der Option“ aus Sicht der der ehemaligen DDR und ihrer Bürger:innen erweckte ein Gefühl des ‚Überrollt-werdens‘ und damit verbunden gab es zunehmende Vorbehalte gegenüber dem Einigungsprozess (ebd.: 136). Rustow (1999: 28) beschreibt in diesem Zusammenhang, dass es schwer sei, eine eigene Demokratie in dem Land zu etablieren, wenn Verfassungsrechte oder parlamentarische Praktiken einer bereits bestehenden Demokratie einfach kopiert würden. Stattdessen müsse es sich seinen spezifischen Konflikten stellen und wirksame Verfahren für deren Bewältigung entwickeln. Besonders mit Blick auf das Beispiel der Wiedervereinigung wurde das Vorgehen im Einigungsprozess in der Bevölkerung der ehemaligen DDR zunehmend hinterfragt. Mau (2019: 134) beschreibt die Wiedervereinigung in diesem Zusammenhang als eine Art „Kopiervorgang“.

Im Vordergrund der Marktschaffung stand hierbei die Sanierung der ehemaligen DDR-Industrie. Vielmehr beinhalteten diese Vorgänge die Zerstörung der bereits bestehenden Strukturen bis hin zum Verkauf von über 14.000 Betrieben durch die Treuhandanstalt (ebd.: 150). Schon bis Mitte der 1990er Jahre war „gut ein Drittel aus dem Erwerbsleben durch Arbeitslosigkeit, durch Ruhe- und Vorruhestand ausgeschieden“ (Kollmorgen 2005: 123). In den Folgejahren stieg die Arbeitslosenquote in ganz Ostdeutschland auf Höchstwerte von über 20 %, wobei vor allem Frauen stärker betroffen waren als die Männer (Mau 2019: 153). Auf sozialer Ebene zählten und zählen zu den Folgeproblemen vor allem Kontaktverluste, zusammenbrechende soziale Netzwerke und Selbstwerteinbußen (ebd.: 155). Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Wiedervereinigung besonders in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung negativ betrachtet wurde.

Vielfach kam der Vorwurf hinzu, Westdeutschland hätte den ‚Osten‘ im Stil der Kolonialisierung erobert und ihn sich einverleibt (Mau 2019: 136, Kollmorgen 2005: 59). Dieser Vorwurf stützte sich nach Mau (2019: 136) auf vier zentrale Thesen. Diese sind zusammengefasst der Verlust der politischen Handlungsfähigkeit der Ostdeutschen zum einen in Kombination mit der wirtschaftlichen Dominanz des ‚Westens‘ sowie der Auflösung der soziokulturellen Traditionsbestände des ‚Ostens‘ zum anderen. All diese Punkte sind zuletzt auf den kompletten Transfer von Institutionen und Politik zurückzuführen, der wie ein „Korsett übergestülpt“ (ebd.) wurde, ohne dass den ehemaligen DDR-Bürger:innen das Recht auf Mitsprache zuteilwurde. Gerade dieser Zusammenhang mit der „Kolonialisierung des Ostens“ (Kollmorgen 2005: 59) ist heutzutage sehr umstritten. Der Begriff der Kolonialisierung bezieht sich in der Geschichte auf die Eroberung und Ausbeutung überseeischer Gebiete im Zeitraum zwischen dem 15. und dem 20. Jahrhundert (Tetzlaff 2023: 79). Darüber hinaus ist der Kolonialismus eine Herrschaftsform „eines sich als ‚überlegen‘ empfindenden Landes gegenüber einem anderen Volk, das unterdrückt und dessen Land den ökonomischen und politischen Zwecken des Mutterlandes untergeordnet und ausgebeutet wird“ (ebd.: 87). Das Ziel der Wiedervereinigung war die Gleichstellung von ‚Ost‘ und ‚West‘ und nicht die dauerhafte Unterdrückung und Ausbeutung des ‚Ostens‘. Dass es Probleme und Unstimmigkeiten im Vereinigungsprozess gab, ist nicht von der Hand zu weisen. Dennoch ist die Gleichsetzung der Wiedervereinigung mit dem Kontext der Kolonialisierung problematisch, da so die Realität und die Ereignisse verzerrt werden.

 

5     Fazit

Die Transformation in Bezug auf Ostdeutschland beschreibt zusammenfassend einen tiefgreifenden und umfassenden Wandel in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Geprägt war und ist dieser Prozess durch den Übergang von einem sozialistischen System hin zu einem marktwirtschaftlichen, demokratischen Modell nach dem Vorbild des ‚Westens‘. Hierbei wurden die politischen und rechtlichen Institutionen der alten Bundesländer nahezu vollständig auf die Neuen übertragen.

Die schnelle und umfassende Einführung der westlichen Strukturen war das zentrale Merkmal der Transitionsperiode, welche von den Bürger:innen der ehemaligen DDR oft als abrupt und überwältigend empfunden wurde. Der Übergang dauerte nach der Einführung keine vier Monate, da die Wiedervereinigung nach der Wirtschafts- Währungs- und Sozialunion am 01. Juli 1990 bereits am 03. Oktober 1990 mit dem Beitritt der DDR zur BRD abgeschlossen war. Daraus resultierten nachträglich Probleme, die im Laufe der Transformation deutlich werden sollten. Insbesondere die fehlende Bereitschaft, die Bürger:innen der DDR an der Ausgestaltung des neuen Systems beteiligen zu lassen, löste in der Bevölkerung ein Gefühl des ‚Überrollt-werdens‘ aus. Nicht zuletzt führte das Handeln zu erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, darunter Deindustrialisierung, hohe Arbeitslosigkeit und soziale Entfremdung, die in Teilen bis heute anhalten.


Im Rahmen des Geographie-Moduls GEOG 226 "Globalisierung" befasste sich Jolina Störmer mit der postsozialistischen Transformation nach dem Mauerfall in Ostdeutschland.

 


Literaturverzeichnis

Enders, J. C., R. Kollmorgen & I.-S. Kowalczuk (2021): Gesellschaftsformation als sozialer Wandlungstyp, Postsozialismus und (ost-)deutscher Fall. In: Enders, J. C., R. Kollmorgen & I.-S. Kowalczuk (Hrsg.): Deutschland ist eins: vieles. Bilanz und Perspektiven von Transformation und Vereinigung. Frankfurt am Main: Campus, S. 25-26.

Holtmann, E. (2009): Deutschland seit 1990. Signaturen des Übergangs – Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn. Online verfügbar unter: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31865/signaturen-des-uebergangs/. Zugriff am 12.08.2024.

Kollmorgen, R. (2005): Ostdeutschland. Beobachtungen einer Übergangs- und Teilgesellschaft. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Kollmorgen, R. (2015): Postsozialistische Transformationen des 20. und 21. Jahrhunderts. In: Kollmorgen, R., W. Merkel & H.-J. Wagener (Hrsg.): Handbuch Transformationsforschung. Wiesbaden: Springer, S. 421.

Kollmorgen, R., W. Merkel & H.-J. Wagener (2015): Transformation und Transformationsforschung: Zur Einführung. In: Kollmorgen, R., W. Merkel & H.-J. Wagener (Hrsg.): Handbuch Transformationsforschung. Wiesbaden: Springer, S. 21.

Kornai, J. (2008): The Great Transformation of Central Eastern Europe: Success and Disappointment. In: Kornai, J., L. Matyas & G. Roland (Eds.): Institutional Change and Economic Behaviour. London: Palgrave Macmillan, p. 9-10.

Mau, S. (2019): Lütten Klein. Leben in der deutschen demokratischen Transformationsgesellschaft. Bonn: Suhrkamp.

Rustow, D. A. (1999): Transitions to Democracy: Toward a Dynamic Model. In: Anderson, L. (Ed.): Transitions to Democracy. New York: Columbia University Press, p. 28.

Schroeder, H.-H. (2004): Vom Kiewer Reich bis zum Zerfall der UdSSR. In: Informationen zur politischen Bildung, Heft Nr. 281, S. 8. Online verfügbar unter: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/russland-281/#content-index. Zugriff am 15.08.2024.

Schroeder, W. & D. Buhr (2021): 30 Jahre Transformation und Vereinigung –Forschungsstand, gesellschaftliche Problemlagen, Gestaltungsperspektiven. In: Enders, J. C., R. Kollmorgen & I.-S. Kowalczuk (Hrsg.): Deutschland ist eins: vieles. Bilanz und Perspektiven von Transformation und Vereinigung. Frankfurt am Main: Campus, S. 81-88.

Tetzlaff, R. (20232): Afrika. Eine Einführung in Geschichte, Politik und Gesellschaft. Wiesbaden: Springer.

 

 

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