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Beitrag IV: Ist, wenn jeder an sich selbst denkt, an alle gedacht? Überlegungen zu Atmosphären der Solidarität (Simon Runkel)


Graphic Recording des Vortrags vom 30. April 2020 (freundlicherweise zur Verfügung gestellt von AJA Berlin)

In der pandemischen Gegenwart ist Solidarität ein oft gebrauchter Begriff. Die folgenden Skizzen zum Begriff der Solidarität sind weniger eine theoretische Annäherung an als eine essayistische Umkreisung um den Begriff. Der Beitrag wurde als geopoetischer Impuls im Kontext einer als Digitalkonferenz des AJA – Arbeitskreis gemeinnütziger Jugendaustausch / IAC Berlin am 30. April 2020 abgehaltenen Werkstatt zur „Zukunft des Ehrenamts“ gehalten. Es werden – lediglich heuristisch – vier Perspektiven auf Solidarität angedeutet, die von einer anthropologisch-phänomenologischen, über eine gemeinschaftstheoretische und gesellschaftskritische Dimension von Solidarität zur geo-sozialen Frage eine planetarischen Solidarität reichen.

1. Atmosphären der Solidarität: können wir anders als helfen?

Zu Beginn eine anthropologische Frage: können wir als Menschen anders als helfen?

Erstens, warum die Rede von solidarischen Atmosphären? Mit Atmosphäre ist hierbei zunächst nicht vorrangig die Erdatmosphäre gemeint. Sondern Atmosphäre erscheint hier, so wie wenn wir von „gemütlichen Atmosphären“, von „vertrauten Atmosphären“, kurzum, wenn wir von sozialen Atmosphären sprechen. Warum Atmosphäre? Solidarität erscheint in der Erfahrung als Gefühl. Es ist aber ein Gefühl, dass die einzelne Person übersteigt. Es ist ein geteiltes Gefühl. Davon kündet auch die Rede von „Wellen der Solidarität“, das heißt, es ist ein Gefühl, dass die Menschen erfassen kann. Es bleibt nicht bei ihnen, oder an ihnen, sondern es öffnet einen gestimmten Raum; einen geteilten Raum mit anderen, die auch von dieser Stimmung ergriffen werden. Dabei entstehen Räumlichkeiten von geteilten Gefühlen, eben Atmosphären der Solidarität. Können Menschen anders als helfen? Phänomenologisch zeigt sich vermittels der Erfahrung, dass Menschen ergriffen werden von Gefühlen. Auch wenn sich manchmal Menschen immun zeigen. Aus sozialphänomenologischer Perspektive lässt sich sagen, dass Solidarität ansteckend ist.

Zweitens stellt sich die Frage, warum für die Geographie Solidarität ein Interessensgebiet ist. Wäre dies nicht eher was für Psycholog*innen oder Soziolog*innen? Tatsächlich gab es einen Geographen der sich Anfang des 20. Jahrhundert sehr ausgiebig mit Solidarität beschäftigt hat. Peter Kropotkin hat 1910 ein sehr schönes Buch „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt" verfasst. Sein Argument war, dass Darwin missverstanden wird. In der damaligen Zeit wurde Darwins „Survival of the fittest“ oft als Konkurrenzkampf aller gegen allen charakterisiert. Mit dramatischen Folgen, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts lehrt. Kropotkin wollte mit einer Geschichte der Solidarität aufzeigen, dass es nicht die Konkurrenz hauptsächlich ist, die evolutionäre Vorteile bietet. Im Gegenteil: die Kooperation stellte er an erste Stelle. Können Menschen anders als helfen? Kropotkin würde sagen, dass sich Menschen gegenseitig helfen müssen. Aus seiner evolutionären Perspektive gilt also, dass Solidarität für die Menschen überlebenswichtig ist.

Drittens ist Solidarität nicht nur ein Gefühl oder ein Mechanismus zum Überleben. Wir sind nicht nur Menschen, sondern im Laufe unserer Sozialisation und unserer Biographien können wir uns zu uns als Menschen verhalten. Wir erlangen Personalität. Alle Kulturen haben eine bestimmte Vorstellung davon, was es heißt Person zu sein. Zu Personen werden wir, wenn wir uns gegenseitig anerkennen. Personen gibt es immer nur im Plural. In der Anerkennung von Leistungen und Fähigkeiten wird personale Würde erlangt. Somit ist Solidarität kein Zweck an sich, damit sich Menschen besser fühlen oder überleben. Solidarität ist ein zentraler menschlicher Akt der Anerkennung des Anderen als Person. Personen leben in Anerkennungsgemeinschaften. Können Menschen anders als helfen? Aus personalistischer Perspektive deutet sich an, dass sich Menschen in der Solidarität gegenseitig als Personen anerkennen. Solidarität verleiht Würde.

Die Schwierigkeit einer solch anthropologisch-phänomenologischen Perspektivierung liegt aber darin, dass als zu schnell von einem „Wir“ auf Gesellschaft geschlossen wird.

2. Soziale Geographien der Solidarität: wer ist uns der oder die Nächste im sozialen Miteinander?

Verlässt man diese anthropologisch-phänomenologische Perspektivierung auf Solidarität, dann stellt sich die Frage, wer im solidarischen Miteinander als der oder die Nächste erscheint. Es emergiert die Frage nach den Gemeinschaften der Solidarität. Mit der Frage nach Vergemeinschaftung stellt sich auch die Frage nach Grenzziehungen.

Erstens scheint es, als ob es – ganz praktisch – Grenzen der Solidarität gibt. Solidarität bildet sich vor allem im sozialgeographischen Nahfeld heraus. In der Hausgemeinschaft, in der Nachbarschaft, im Quartier, in der Stadt usw. Was uns geographisch näher ist, erscheint auch in der Solidarität näher. Dies ist ein Problem der Wahrnehmung, da Naheliegendesm gemeinhin eine kausale Bedeutung zugewiesen wird. Allerdings ist insbesondere in der globalisierten Welt ist geographisch näherliegendes nicht zwangsläufig kausal näherliegendes.
Es entsteht zum einen die Gefahr, dass ein plumpes geographisches Verständnis von Solidarität, nicht nur auf das geographische Nahfeld bezogen wird, sondern dann auch auf die soziokulturelle Herkunft ausgeweitet wird. Insbesondere von der politischen Rechten wird eine solche plumpe Kausalität in Bezug auf die Solidarität betrieben. Die Anerkennung der personalen Würde kennt solche Grenzziehungen nicht.
Zum anderen macht die aktuelle Situation eines deutlich: durch unsere Verinselung, durch den Rückzug in unsere sozialen Netzwerke, treten schwache soziale Bindungen aktuell zurück. Also Beziehungen zu Leuten, die wir nicht so gut kennen, die vertrauten Fremden, die Leute mit denen wir nicht so viel zu tun haben sonst usw. Tatsächlich sind dies meist Leute, die nicht im gleichen Viertel wie wir wohnen. Es ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sehr gefährlich, wenn alle in ihren räumlichen Blasen bleiben.

Dies führt zweitens zur der besonderen Notwendigkeit Solidarität an der Grenze zu zeigen. Dies kann metaphorisch verstanden werden, aber ebenso auch buchstäblich. Solidarität muss darauf ausgerichtet sein über Grenzen zu gehen. Personen gibt es nur im Plural: das heißt, individuelle Grenzen werden überwunden. Wir sind keine Inseln. Dies gilt ebenso für geographische und politische Grenzen. Das Ziel der Solidarität muss sein, die Anerkennungsgemeinschaft auszuweiten. Wird in dieser Anerkennungsgemeinschaft einem Menschen die Würde verweigert, dann verliert die gesamte Anerkennungsgemeinschaft ihre Würde. Dies zeigt sich derzeit besonders im Umgang mit Kindern, die für die Würde einer Gemeinschaft von besonderer Wichtigkeit sind. Aktuell zeigt sich die ganze Problematik der Anerkennung und der Solidarität im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen.

Es stellt sich aber die Frage, ob eine gemeinschaftsorientierte Perspektivierung von Solidarität, diese in Bezug auf gesellschaftliche Verhältnisse umfassend begreift und zur Kritik gereicht.

3. Freiwillige vor! Solidarität im neoliberalen Zeitalter

Prominent diskutiert wird Solidarität folglich in gesellschaftskritischer Absicht. Die dominante Ordnung ist derzeit neoliberal. Die gegenwärtige Zeit lässt sich, vereinfacht gesagt, mit einem bestimmten Motto auf den Punkt bringen: Wenn jeder an sich selbst denkt, dann ist an alle gedacht.

Solidarität ist aktuell ein sehr inflationär gebrauchter Begriff. Alle sind plötzlich solidarisch. Klar, in Interaktionen zeigen wir uns durch körperlichen Abstand solidarisch. Klar, die Welle der Hilfsbereitschaft in der Krise ist toll. Die Gefahr besteht aber, dass Solidarität romantisiert wird. Das zeigt die Debatte um den Applaus für das Krankenhauspersonal. Im Neoliberalismus wird soziale Gerechtigkeit mehr und mehr in den Bereich der individuellen Eigenverantwortung geschoben. Für viele Menschen ist die Krise permanent – unabhängig von der Pandemie. Solidarität muss dann die Lücken füllen, ja, wird sogar unverfroren eingefordert zuweilen und als selbstverständlich angenommen. Mit dem Applaus ist es so wie mit dem Mitleid: Mitleid beharrt in den Zuständen, Mitleid verändert nichts. Darauf haben Adorno und Horkheimer schon in der Dialektik der Aufklärung hingewiesen. Solidarität erscheint somit mit einem gesellschaftsromantischen Anstrich. Zur Herstellung von sozialer Gerechtigkeit braucht es aber mehr als humanistische Gesten.

Solidarität ist zweitens eine politische Praxis. Besonders in Krisenzeiten gilt politisch gefärbte Solidarität als Störung. Aber wenn Solidarität entpolitisiert wird, dann bleibt es lediglich eine humanistische Geste. Kropotkin hat gezeigt, dass Solidarität als Praxis eine Kritik an ungerechten Verhältnissen ist. Es gibt ein anarchistisches Moment der Solidarität. Mit Anarchismus ist hier die Fähigkeit von sozialen Gemeinschaften sich so selbst im Hier und Jetzt zu organisieren, dass Solidarität grundsätzlich verankert ist. Aus gesellschaftskritischer Perspektive bedeutet dies, dass Solidarität stets ein politisches Projekt ist, weil es eine Praxis der Veränderung von Gesellschaft ist.

4. Fragile Atmosphären: wir brauchen eine neue planetarische Solidarität!

Werden im Gesellschaftsbegriff denn alle solidarischen Verbundenheiten abgebildet? Zuletzt also noch mal ein Rückgriff auf den Begriff der Atmosphäre. Jetzt aber im Sinne der Erdatmosphäre.

Erstens sind Menschen vor allem Erdverbundene. Anzuerkennen ist folglich auch, dass Menschen in Gemeinschaft mit einer Vielzahl von Lebewesen auf diesem Planeten leben. Solidarität muss auch diese über mehr-als-menschlichen Verwandtschaften anerkennen. Es braucht angesichts des Zustands der Erde eine planetarische Solidarität. Ökologische Probleme sind untrennbar mit sozialer Ungleichheit verbunden. Die soziale und die ökologische Frage, vereinen sich zu der geo-sozialen Frage unserer Zeit.

Zweitens und abschließend: Solidarität ist deswegen ansteckend, weil es zur Tat auffordert. Solidarität ist nicht nur ein Gefühl, sondern eine Praxis. Unsere Erdatmosphäre und unser menschliches Leben sind – wie wir aktuell stark spüren – sehr fragil und zerbrechlich. Solidarität aber kommt aus dem Lateinischen, von solidus und heißt „fest“. Nur im solidarischen Handeln kann angesichts der Fragilität der Erdatmosphäre und des Lebens fester Boden gewonnen werden.

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