Direkt zum Hauptbereich

Beitrag VI: Theorien von Bevölkerung und Schutz nach Foucault bezogen auf COVID-19 (Dominique L. Kauer)



Vor einigen Wochen bekam ich von einer Freundin ein Buch mit einer Vortragsreihe von Foucault geschenkt. Erstaunt stellte ich fest, dass Foucault bereits in seinem ersten Vortrag anhand von Epidemien Machtmechanismen und Sicherheit darstellt. Ich stellte weiter fest, dass Foucault immer wieder über drei Infektionskrankheiten sprach und schrieb und den politischen Umgang mit ihnen als Modell für drei verschiedene Formen des Regierens befand: Lepra, Pest und Pocken. Ich möchte gar nicht groß auf die Entwicklung von Machtmechanismen auf die Bevölkerung oder die verschiedenen Regierungsformen eingehen, sondern nur kurz erwähnen, wie Foucault die Einwirkungen von Bio-Macht auf den Bevölkerungskörper zu seiner Zeit, den 70er Jahren, sieht. Anschließend gehe ich darauf ein, was das für Sicherheitstechniken in Bezug auf Epidemien heutzutage bedeutet und inwiefern Foucaults Theorie in meinen Augen auf die derzeitige Corona-Pandemie zutrifft. 

Foucault zufolge sei die Bevölkerung ein grundlegendes Element in der Dynamik der Macht der Staaten, da sie Konkurrenz sichere. Dies führe zu niedrigen Löhnen und schaffe neue Exportmöglichkeiten. Die Bevölkerung werde zur Basis des Reichtums als auch der Macht des Staates, da sie von seinem Verordnungsapparat eingerahmt sei. Mittlerweile werde auf die Bevölkerung über entfernte Dinge Einfluss genommen, durch eine Menge von Faktoren, die offenbar weit entfernt sind von der Bevölkerung und ihrem unmittelbaren Verhalten (vgl. Foucault 2017, S. 110). Anstelle also beispielsweise direkten Einfluss auf die Geburtenrate zu nehmen, werde durch Kalkül und Analyse auf entfernte Dinge Einfluss genommen, die aber effektiv auf die Bevölkerung einwirke, wie beispielsweise die Einwirkung auf Geldflüsse durch Exporte. Foucault spricht von einer „Rationalisierung der Machtmethoden“ (ebd., S. 111), mit der Freiheit der Individuen als absolut Grundlegendem. 

Was hat das nun mit der Pandemie zu tun?

Die Freiheit der Bevölkerung und der Gleichzeitige Schutz dieser führt für Foucault zu einem „Pockenmodell der Macht“. Die regierende Macht gebe den Traum der totalen Überwachung und Disziplinierung des 17. Jahrhunderts, wie er sie im „Pest-Modell“ beschreibt (ebd., S. 25), auf. Stattdessen koexistiere die Macht eher mit der pathogenen Gefahr. Sie sammelt Daten, erstellt Statistiken und sorgt heutzutage dafür, dass durch Sicherheitsmechanismen wie medizinischer Aufklärung (Foucault nennt es „medizinische Feldzüge“ (ebd., S. 26)), eine Freiwilligkeit zum Selbstschutz entsteht und folglich epidemische Phänomene eingedämmt werden. Dies kann durchaus zu einem Charakter der Normierung und Disziplinierung der Individuen führen, aber eine vollständige Disziplinierung ist dabei nicht denkbar. Beim Lesen des Vortrages kamen mir aktuelle Demonstrationen mit stetiger Klage über rigoroses Regiert werden, aber auch Leugnung und Verharmlosung der aktuellen COVID-19 Pandemie in den Sinn. Unlängst wurde „Corona-Diktatur“ zum Unwort des Jahres 2020, da es tatsächliche Diktaturen verharmlost. Derzeitige Auflagen oder die Untersagung von Versammlungen dienen letztlich dem Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit anderer Menschen und nicht der Unterdrückung einer bestimmten Meinung. Ganz deutlich ist hier der Unterschied zu Diktaturen, da jede ganz persönliche Freiheit in unserer gesellschaftlichen Moral ihre Grenze im Freiheits- und Entfaltungsanspruch der anderen findet. 

Klar ist, dass Foucault nur von Denkmodellen spricht, um Machtformen sichtbar zu machen. Auch wenn bestimmte Formen von Kontrollen und übergangsweise Gesetze auftreten, um eine weltweite Pandemie einzudämmen, bedeutet das nicht, dass die deutsche Regierung zur totalen disziplinierenden Macht ausartet. Täglich neue Statistiken und Infektionskurven, die wie Frontberichte aufploppen, stützen Foucaults liberales Pocken-Modell. Gleichzeitig fordert es mit Blick auf das „Pest-Modell“ auf, die Machtausübung immer im Auge zu behalten und Machtumformungen, wie sie Victor Orbán in Ungarn per Dekret plante oder auch die Aufgabe von persönlichen Informationen zu beobachten und zu kritisieren. 

Jede verschärfte Ausgangssperre zeigt letztlich nur, wie Regierungen statistisches Wissen über das Infektionsgeschehen fehlt und eine Eindämmung der Pandemie nicht gewährleistet werden kann. Auch die Hilflosigkeit und das Misstrauen in die Vernunft der Bevölkerung wird in solchen Maßnahmen deutlich. Das menschliche Sein besteht eben aus mehr als Wissen und Vernunft, welche zu verantwortungsvollem Handeln leiten. Allem Anschein nach überwiegt beispielsweise das Bedürfnis nach physischer Nähe dem Gebot der Vernunft. Insbesondere für die jüngere Generation ist dies schwer erträglich, wie eine kürzliche Auswertung der 7-Tage-Inzidenz der Stadt Jena verdeutlicht (Ostthüringische Zeitung 13.01.2021). Krisen zeigen interessanterweise zu jeder Zeit nicht nur wie stark ein System ist, sondern auch wie Gesellschaften aufgebaut und regiert werden. Glücklicherweise eröffnen sie gleichzeitig, wie Umgang und Bewältigung machbar werden kann.








Literaturverzeichnis 
Foucault, Michel (2017): Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France, 1977-1978. 5. Auflage, Originalausgabe. Hg. v. Michel Sennelart. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1808). 

Ostthüringische Zeitung (13.01.2021): Mehr junge Erwachsene in Jena positiv auf Corona getes-tet. Die Sieben-Tage-Inzidenz stabilisiert sich bei 200 - außer bei den jungen Erwachsenen. Die Stadt Jena legt eine Auswertung nach Altersgruppen vor. Jena. Online verfügbar unter https://www.otz.de/regionen/jena/mehr-junge-erwachsene-in-jena-positiv-auf-corona-getestet-id231320282.html, zuletzt geprüft am 16.01.2021.

Beliebte Posts aus diesem Blog

Beitrag I: Altenpflegeheime als verschärfte Heterotopien (Dominique L. Kauer)

(Foto: Dominique L. Kauer) Aktuell befindet sich die Gesellschaft in einem sogenannten „Ausnahmezustand“. Wobei zu dem Begriff derzeit sowohl rechtliche als auch sozialwissenschaftliche Debatten entstanden sind (vgl. Agamben 2020; Klafki 2020). Regierungen versuchen die Ausbreitung des Coronavirus mithilfe von politischen Maßnahmen zu verlangsamen. Der Hashtag #flattenthecurve geht durch das Netz. Damit einhergehend wird weltweit zu Disziplinierungsmaßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen und -sperren gegriffen. Lückenlose Kontrolle aller Grenzen und Übergänge in Staaten, Bundesländer und Städten und die Anweisung aller Bürger*innen, möglichst Zuhause zu bleiben, sind beispielsweise in Deutschland zu sehen. Während die Mehrheit der Gesellschaft allerdings durch Spaziergänge und Videoanrufe soziale Kontakte aufrechterhalten kann, sind derzeit Menschen in Pflegeheimen ausschließlich dem Personal überlassen. Bundesweit sind Besuche bei Verwandten und Bekannten entweder ganz verboten od

Beitrag IV: Ist, wenn jeder an sich selbst denkt, an alle gedacht? Überlegungen zu Atmosphären der Solidarität (Simon Runkel)

Graphic Recording des Vortrags vom 30. April 2020 (freundlicherweise zur   Verfügung gestellt von AJA Berlin) In der pandemischen Gegenwart ist Solidarität ein oft gebrauchter Begriff. Die folgenden Skizzen zum Begriff der Solidarität sind weniger eine theoretische Annäherung an als eine essayistische Umkreisung um den Begriff. Der Beitrag wurde als geopoetischer Impuls im Kontext einer als Digitalkonferenz des AJA – Arbeitskreis gemeinnütziger Jugendaustausch / IAC Berlin am 30. April 2020 abgehaltenen Werkstatt zur „Zukunft des Ehrenamts“ gehalten. Es werden – lediglich heuristisch – vier Perspektiven auf Solidarität angedeutet, die von einer anthropologisch-phänomenologischen, über eine gemeinschaftstheoretische und gesellschaftskritische Dimension von Solidarität zur geo-sozialen Frage eine planetarischen Solidarität reichen. 1. Atmosphären der Solidarität: können wir anders als helfen? Zu Beginn eine anthropologische Frage: können wir als Menschen anders als h

Erfahrungsbericht zum Geländepraktikum vom 27. bis 31. Juli 2020 im Nationalpark Hainich (Clara Hübner, Sophie Tzschabran und Tim Wenzel)

Gruppenfoto des Geländepraktikums im NP Hainich (Foto: Simon Runkel) Nach Ankunft in dem historischen Ort Bad Langensalza mit seinen verwinkelten Gassen traf sich die Seminargruppe an der Nationalparkverwaltung im Stadtkern der Kurstadt. Im Innenhof der Nationalparkverwaltung gab es eine Begrüßung und Einführung durch den Leiter des Nationalparks Manfred Großmann, hierbei wurde über den besonderen Schutzstatus des Hainich aufgeklärt. Der Nationalpark Hainich ist seit 2011 Teil der UNESCO Weltnaturerbestätte „Alte Buchenwälder und Buchenurwälder der Karpaten und anderer Regionen Europas“. Er stellt zudem die größte zusammenhängende und gleichzeitig unbewirtschaftete Laubwaldfläche Deutschlands dar. Nach kurzer anschließender Fahrt in die Unterkünfte - das alte Pfarrhaus in Craula und die Jugendherberge Urwald Life Camp in Lauterbach direkt am Rande des Nationalparks - richteten wir uns dort zunächst ein. Bedingt durch die COVID-19 Pandemie verteilte sich die ca. 20-köpfige Seminargruppe