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Beitrag III: Solidarität der Nationalstaaten in Zeiten von Corona? (Dominique L. Kauer)

Permanente europäische Außengrenzen (Foto: Dominique L. Kauer)

Seit Wochen befinden wir uns in einem Europa der geschlossenen Grenzen. Trotz der medialen Kritik von Virolog*innen wie Brockmann und Stürmer (2020) und deren Appell, nur Risikogebiete anstelle ganzer Staatsgrenzen abzuriegeln, beschlossen die europäische Staaten Anfang März ihre nationalen Grenzen zu schließen und ließen so die europäische Idee in die Knie gehen. Dass diese Entscheidungen unilateral gefällt wurden und ohne Absprache mit den europäischen Institutionen, sei hier nur kurz erwähnt.

Noch nie waren so viele Menschen gegenseitig voneinander abhängig wie heute und auch die Abschaffung der Binnengrenzkontrollen in der EU durch das Schengener Abkommen 1990 trug dazu bei. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten wurden soziale und wirtschaftliche überregionale Beziehungen gefestigt. Wenn sich beispielsweise polnische Ärzt*innen im Krankenhaus in Schwedt jetzt Gedanken um die moralischen und wirtschaftlichen Folgen ihrer Abwesenheit machen müssen (vgl. Koch et al. 2020) und landwirtschaftliche Betriebe Probleme bei der Ernte bekommen (vgl. Jörges 2020), wird erst das Ausmaß des Rückbezugs auf Nationalgrenzen deutlich. 

In der Verfestigung nationaler Grenzen wird aber auch der Gedanke einer homogenen Gemeinschaft transportiert, welche zum Ausschluss von anderen Gruppen und Gesellschaften führt. Dies ist zum Beispiel in der abgekapselten Gesundheitspolitik sichtbar. Auch wenn die Wirt-schaft und Politik die Welt zu einer globalen Stadt machen (vgl. Werlen 2008: 35), gilt dies anscheinend nicht für das Wohlergehen der darin lebenden Menschen. 

Émile Durkheim, unterschied zwischen zwei Formen von Solidarität: die mechanische und die organische Solidarität. In der organischen Solidarität werde den Akteur*innen bewusst, dass sie von den Leistungen anderer abhängig sind und diese nur solange in Ansprach nehmen können, solange sie ihrerseits dazu beitragen, dass die anderen Akteur*innen ihre Bedürfnisse erfüllen können. Dieses Aufeinander-angewiesen-sein der einzelnen Individuen hält so die Gesellschaft zusammen. Die mechanische Solidarität hingegen beruhe auf Ähnlichkeit – sie beziehe sich rein auf die eigene Gruppe, wie auch immer sie verstanden wird (vgl. Durkheim 1988: 429f). Das kann die Familie, das Dorf, die Gesellschaft oder die eigene Klasse sein. Innerhalb dieser Gruppe ist man solidarisch, weil die Anderen einem ähnlich sind. Jede Person, die einem nicht ähnlich ist, sondern fremd, hat keinen Anspruch auf Solidarität. Im Gegenteil: Außenstehende werden als Personen betrachtet, denen gegenüber man auch unmoralisch handeln darf. Innerhalb der eigenen Gruppe herrscht Solidarität; außerhalb darf unsolidarisch gehandelt werden (vgl. Thome 2020). 

Wozu dies führt, kann an den Aussagen von Gesundheitsministers Spahn betrachtet werden. Im Tagesspiegel betonte er noch vor einem Monat stolz „Wir haben doppelt so viele Betten frei, wie Italien insgesamt überhaupt an Intensivbetten hat“ (Barthels 2020). Gleichzeitig war in Italien das System bereits überlastet und Menschen starben aus Mangel. Wenn fehlende Solidarität und verstärkter Nationalismus zum Leiden anderer Menschen führen, wie es auch an den Außengrenzen der EU geschieht, was haben Menschen dann von der Globalisierung, abgesehen von wirtschaftlicher Ausbeutung? 

Die Angewiesenheit aufeinander, wie sie der Jenaer Sozialgeograph Benno Werlen beschreibt, scheint nur im hypothetischen, globalen Sinn zu existieren. Denn was wäre, wenn sie tatsächlich erkannt würde und der Globalisierung auch globales Handeln folgte? Dann würde verhindert, dass traditionelle Nationalstaatskonzepte die Solidarität der Bevölkerungen auf das Lokale beschränken und bestehende Krisen und Konflikte so bestärkt und beschleunigt werden. 

Literatur 

Barthels, I. (2020): „Ich kann nicht versprechen, dass es nicht so wird wie in Bergamo oder New York“. In: Der Tagesspiegel, online unter https://www.tagesspiegel.de/politik/gesundheitsminister-jens-spahn-zur-coronakrise-ich-kann-nicht-versprechen-dass-es-nicht-so-wird-wie-in-bergamo-oder-new-york/25709794.html, zuletzt geprüft am 23.04.2020. 

Brockmann (2020): Warum Schlagbäume das Virus nicht aufhalten. In: Deutschlandfunk Kultur, online unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/wissenschaftler-ueber-corona-und-nationale-grenzen-wa-rum.1008.de.html?dram:article_id=474184, zuletzt geprüft am 23.04.2020. 

Durkheim, E. (1988): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt. 

Jörges, S. (2020): Jetzt ist auch noch der Spargel in Gefahr. In: Zeit Online, online unter: https://www.zeit.de/hamburg/2020-03/spargelernte-grenzkontrollen-polen-coronavirus-erntehelfer-landwirte, zuletzt geprüft am 23.04.2020. 

Koch, T. et al. (2020): Die deutsche Grenzpolitik in Zeiten von Corona. In: Deutschlandfunk, online unter: https://www.deutschlandfunk.de/schengen-ausgesetzt-die-deutsche-grenzpolitik-in-zeiten-von.724.de.html?dram:article_id=474459, zuletzt geprüft am 23.04.2020. 

Stürmer, M. (2020): Sind Grenzschließungen sinnvoll? In: ZDF, online unter: https://www.zdf.de/nach-richten/heute-journal/sind-grenzschliessungen-sinnvoll-100.html, zuletzt geprüft am 23.04.2020. 

Thome, M. (2020): Solidarität in der Krise: Warum die Suche nach Sündenböcken so schädlich ist. In: GEO, online unter: https://www.geo.de/wissen/gesundheit/22772-rtkl-corona-pandemie-solidaritaet-der-krise-warum-die-suche-nach, zuletzt geprüft am 23.04.2020. 

Werlen, B. (2008): Sozialgeographie: eine Einführung. Bern; Stuttgart; Wien: Haupt. 

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